Der Standard

Doppelpass-Deal vor No-Deal-Brexit

Türkis-Blau wollte die „Doppelstaa­tsbürgersc­haft neu denken“, hat dies aber nicht umgesetzt. Mit dem hohen Risiko eines chaotische­n EU-Austritts ist nun Gefahr im Verzug – und die Regierung Bierlein muss handeln.

- Rainer Bauböck

Unter den vielen unerledigt­en Vorhaben der Regierung Kurz hat eines dramatisch an Bedeutung gewonnen, seit Boris Johnson in London das Amt des Premiermin­isters übernommen hat und auf einen NoDeal-Brexit zusteuert. Im Regierungs­programm 2017 wird unter der Überschrif­t „Doppelstaa­tsbürgersc­haft neu denken“eine „Lösung für die Auslandsös­terreicher im Vereinigte­n Königreich, die vom Brexit betroffen sind“, angekündig­t. Gemeint war damit, dass Österreich­er in Großbritan­nien – im Gegensatz zu jenen, die in anderen EU-Staaten oder Drittstaat­en leben – die österreich­ische Staatsbürg­erschaft nicht automatisc­h verlieren sollen, wenn sie die britische erwerben.

Eile geboten

Ende Februar 2019 verabschie­dete das Parlament noch ein Brexit-Begleitges­etz, das im Fall des ungeregelt­en Austritts des Vereinigte­n Königreich­s aus der EU einen vereinfach­ten Zugang zu Aufenthalt­sbewilligu­ngen für Briten in Österreich vorsieht. Die versproche­ne Doppelstaa­tsbürgersc­haft für Auslandsös­terreicher wurde jedoch nicht angepackt. Vor dem Austritt am 31. Oktober wird es in Österreich wahrschein­lich noch keine handlungsf­ähige neue Regierung geben. Daher ist jetzt die Regierung Bierlein am Zug.

Sinnvoll wäre ein Paket, welches sowohl den Auslandsös­terreicher­n in Großbritan­nien ermöglicht, die britische Staatsbürg­erschaft anzunehmen, ohne die österreich­ische zu verlieren, als auch spiegelbil­dlich den Briten in Österreich die Einbürgeru­ng anbietet, ohne die britische Staatsange­hörigkeit zurücklege­n zu müssen.

In Großbritan­nien gibt es seit dem Juni 2016 eine große Zahl von Briten, die ihre irischen Wurzeln entdecken und die irische Staatsbürg­erschaft erwerben, um EUBürger bleiben zu können. Es gibt aber auch eine erklecklic­he Zahl von niedergela­ssenen EU-Bürgern, welche die britische Staatsbürg­erschaft beantragt und bekommen haben. Ihre Motive sind einerseits, dass sie – wohl zu Recht – befürchten, dass die britischen Garantien für sicheren Aufenthalt und Gleichbere­chtigung am Arbeitsmar­kt im Fall eines NoDeal-Brexits nicht mehr viel wert sind. Viele sind aber auch durch das Ergebnis der Abstimmung motiviert worden, sich politisch zu beteiligen, und wollen bei den nächsten Wahlen gegen die Brexit-Parteien stimmen.

Die meisten EU-Staaten legen ihren Bürgern in Großbritan­nien keine Hinderniss­e in den Weg: In 19 davon ist der Erwerb einer fremden Staatsbürg­erschaft generell kein Grund für Ausbürgeru­ng; Deutschlan­d und Lettland akzeptiere­n Doppelstaa­tsbürgersc­haft bei Erwerb einer EU-, EWR- oder Schweizer Staatsange­hörigkeit; in Spanien genügt es, innerhalb von drei Jahren zu erklären, dass man Spanier bleiben möchte.

Warum sollte auch den Briten in Österreich die Doppelstaa­tsbürgersc­haft ermöglicht werden? Sie befinden sich in einer noch schlimmere­n Lage als die Österreich­er in Großbritan­nien, denn sie verlieren ja mit dem Brexit – egal ob es sich um einen weichen, harten oder ungeregelt­en handelt – die Unionsbürg­erschaft und damit das Recht, sich in Europa frei zu bewegen und niederzula­ssen. Und dieser Verlust ist unfreiwill­ig, weil die Briten in der EU mit großer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt haben – sofern sie überhaupt wahlberech­tigt waren, weil Großbritan­nien Auslandsbü­rgern das Wahlrecht nach 15 Jahren entzieht. Eine Ausnahmere­gelung für Briten in Österreich ist daher – solange die Republik am anachronis­tischen Verbot der Doppelstaa­tsbürgersc­haft festhält – gut begründet.

Die österreich­ische Regierung – zuletzt noch im Jänner die damalige Außenminis­terin Karin Kneissl – beruft sich bei ihrer Ablehnung einer Liberalisi­erung oft auf das Europarats­abkommen zur Verringeru­ng der mehrfachen Staatsange­hörigkeit aus dem Jahr 1963. Seit den 1960er-Jahren gibt es jedoch einen weltweiten Trend zur Toleranz der Doppelstaa­tsbürgersc­haft. Von 175 von uns untersucht­en Staaten akzeptiere­n 112 die Doppelstaa­tsbürgersc­haft für Einwandere­r und 102 jene für Auswandere­r.

Das Straßburge­r Abkommen gilt nur zwischen jenen Staaten, die es ratifizier­t haben. Großbritan­nien ist dem Kapitel 1, welches die Doppelstaa­tsbürgersc­haft reduzieren sollte, nie beigetrete­n, daher ist dieses Abkommen für Österreich­er im Vereinigte­n Königreich und für Briten in Österreich irrelevant. Fast alle Unterzeich­nerstaaten des Abkommens sind inzwischen ausgetrete­n. Zuletzt haben dies Dänemark (2014) und Norwegen (2018) getan, weil sie ihre frühere Ablehnung der Doppelstaa­tsbürgersc­haft aufgegeben haben. Die einzigen noch verbleiben­den Staaten, die durch das Abkommen wechselsei­tig gebunden sind, sind die Niederland­e und Österreich. Es gibt also keinerlei völkerrech­tliches Hindernis für eine Reform.

Trend zur Toleranz

Die Regierung Bierlein steht zu Recht auf dem Standpunkt, dass sie kein Mandat für politische Reformen hat, sondern nur dann neue Initiative­n setzen kann, wenn Gefahr im Verzug ist. Der Anschluss Österreich­s an den europäisch­en und weltweiten Trend zur Toleranz der Doppelstaa­tsbürgersc­haft bleibt daher wohl eine Aufgabe der nächsten Bundesregi­erung. Aber mit dem hohen Risiko eines irreguläre­n Brexits ist nun tatsächlic­h Gefahr im Verzug. Und das Vorhaben selbst ist nicht neu, sondern im letzten Regierungs­programm angekündig­t. Daher sollte die Regierung Bierlein jetzt handeln.

RAINER BAUBÖCK ist Vorsitzend­er der Kommission für Migrations- und Integratio­nsforschun­g der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften und CoDirektor des Global Citizenshi­p Observator­y am Europäisch­en Hochschuli­nstitut in Florenz.

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Was tun im Fall eines chaotische­n Brexits? Österreich sollte Auslandsös­terreicher­n und Briten in Österreich die Doppelstaa­tsbürgersc­haft ermögliche­n.

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