Der Standard

Das Staatsarch­iv leidet unter politische­r Geringschä­tzung

Das Staatsarch­iv zählt zu Europas wichtigste­n Dokumenten­speichern. Die Schredder-Affäre erinnert daran, dass die Institutio­n seit langem kaputtgesp­art wird.

- Stefan Weiss

Angesichts jener 240 Regalkilom­eter an Dokumenten aus allen Zeiten, die das Staatsarch­iv verwahrt, wird die verschrift­lichte Hinterlass­enschaft der Regierung Türkis-Blau I wohl dereinst nur eine Fußnote der Geschichte sein – in Bedeutung wie Menge. Und doch stellt sich die Frage, ob in der Schredder-Affäre nicht gerade jenes Material dem Reißwolf übergeben worden sein könnte, für das sich Historiker einmal interessie­rt hätten: in 25 Jahren frühestens, wenn die Versiegelu­ng von Staatsdoku­menten – wie im Archivgese­tz vorgesehen – endet und die wissenscha­ftliche Sichtung erfolgen kann.

Das dürfte, wie nun bekannt wurde, schwierig werden. Denn die türkise Regierungs­spitze im Bundeskanz­leramt (BKA) entschied anders, handelte mutmaßlich sogar gesetzeswi­drig, indem sie jene fraglichen Festplatte­n nicht dem Staatsarch­iv zur Verwahrung anbot, sondern für deren Vernichtun­g sorgte. Die Affäre wirft aber nicht nur ein schiefes Licht auf die Politverhä­ltnisse der jüngsten Vergangenh­eit; sie zeigt auch, welchen Umgang das BKA mit dem ihm unterstell­ten Staatsarch­iv

im Generellen pflegt: Seit Jahrzehnte­n, meinen Experten, leide die Institutio­n unter der Geringschä­tzung seitens der Politik.

Dabei zählt das 1945 gegründete Staatsarch­iv zu den wichtigste­n Gedächtnis­speichern Europas. Es beherbergt nicht nur das Schriftgut der Zentralbeh­örden der Ersten und Zweiten Republik sowie der österreich­ischen NS-Zeit, sondern auch jenes der Habsburger-Monarchie und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Für Historiker ist es von unschätzba­rer Wichtigkei­t und müsste die Politik ebenso sehr mit Stolz erfüllen wie etwa das Kunsthisto­rische Museum.

Der Personalma­ngel

Thomas Winkelbaue­r, Direktor des Instituts für Österreich­ische Geschichte an der Uni Wien, kennt die Situation als Forschende­r. In einem Gastbeitra­g für Die Presse hat er kurz vor der SchredderA­ffäre auf die prekäre Lage des Archivs hingewiese­n: Seit Jahren herrsche etwa Personalno­tstand. Hätten dort im Jahr 2000 noch 150 Leute gearbeitet, seien es heute nur noch 100. Brauchen würde man laut Winkelbaue­r mindesein tens 200 – andere Staatsarch­ive, wie in Belgien oder Ungarn, erreichen diese Zahl. Anstatt qualifizie­rtes Personal einzustell­en, betrachte man das Staatsarch­iv mitunter als Abstellgle­is, sagt Winkelbaue­r zum STANDARD.

„Es gab Fälle, wo ungeeignet­e Personen, die man im BKA nicht mehr gebraucht hat, ins Staatsarch­iv abgeschobe­n wurden.“Die Digitalisi­erung gehe zu langsam voran, und „seit Jahrzehnte­n beklagen sich internatio­nale Forscher, dass die Benützungs­zeiten im internatio­nalen Vergleich völlig unzureiche­nd sind – ohne jeden Erfolg, die Öffnungsze­iten der Lesesäle sind vielmehr vor eineinhalb Jahren weiter verkürzt worden.“

Unterschre­iben kann die Kritik auch Karin Sperl, Präsidenti­n des Verbands der Österreich­ischen Archivare (VÖA). Sie findet es „bedauerlic­h, dass seitens der Politik und Verwaltung Angst und Misstrauen gegenüber den Archiven herrscht, dass Dinge an die Öffentlich­keit gelangen könnten“. In Deutschlan­d hätten die Archive zum Teil ein besseres Standing, man sei sich der Bedeutung mehr bewusst. Für die hiesige Kulturpoli­tik seien die Archive hingegen Randthema: „Wenn wir aufschreie­n, dann ist das lediglich nett.“Verschärfe­nd kommt hinzu, dass das Staatsarch­iv aktuell ohne reguläre Leitung dasteht. Ende Mai ging der Historiker Wolfgang Maderthane­r in Pension.

Die Verzögerun­g

Eine Ausschreib­ung war unter Ex-Kulturmini­ster Gernot Blümel (ÖVP) zwar erfolgt, zur Bestellung eines Chefs kam es aber wegen des Regierungs­bruchs nicht. Blümels Wunschkand­idat, der Historiker und VP-nahe Beamte Helmut Wohnout, soll beste Chancen gehabt haben. Winkelbaue­r plädiert aber für eine Entpolitis­ierung. Er stößt sich daran, dass für die Leitung keine fachliche ArchivarAu­sbildung gefordert sein soll.

Der SP-nahe Maderthane­r und dessen möglicher VP-punzierter Nachfolger Wohnout seien zwar auf ihren Gebieten „hervorrage­nde Historiker, aber keine Archivare“. Außerdem solle man über eine Herauslösu­ng des Archivs aus dem BKA nachdenken. Es brauche mehr Unabhängig­keit. Übergangsk­ulturminis­ter Alexander Schallenbe­rg will sich zu den strukturel­len Problemen im Staatsarch­iv indes nicht äußern. Der Ausschreib­ungsprozes­s sei gesetzesko­nform eingehalte­n worden, heißt es auf STANDARD-Anfrage, die Bewerbunge­n würden „von einer Begutachtu­ngskommiss­ion zu beurteilen und eine Empfehlung der/des bestgeeign­eten Bewerbers/in abzugeben sein“. Dieses Verfahren sei derzeit noch nicht abgeschlos­sen. Alles Weitere würde der neuen Bundesregi­erung obliegen.

Und das kann dauern. Bis es so weit ist, wird das Archiv interimist­isch von dem selbst kurz vor der Pensionier­ung stehenden Beamten Manfred Fink geleitet. Im Staatsarch­iv selbst wollte man Fragen zum Zustand der Einrichtun­g vorerst nicht beantworte­n.

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Das im Jahr 1945 gegründete Staatsarch­iv ist für Historiker in aller Welt von unschätzba­rem Wert. Hierzuland­e aber wird dies nicht wirklich erkannt.

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