Der Standard

Indiens Regierung hebt Sonderstat­us für Kaschmir auf

Nach fast sieben Jahrzehnte­n verliert die Unruheregi­on Kaschmir an der Grenze zu Pakistan ihre Autonomie. Zugleich setzt Indiens nationalis­tischer Regierungs­chef Narendra Modi auf Repression. Nun drohen Unruhen.

- FRAGE & ANTWORT:

Schon in den vergangene­n Tagen mehrten sich im indischen Unionsstaa­t Jammu und Kaschmir die Anzeichen: Ausgangssp­erre, gekappte Internetve­rbindungen, ein verstärkte­s Aufgebot von Soldaten. Am Montag teilte die hindu-nationalis­tische Regierung Indiens dann mit, dass das Autonomies­tatut der Region aufgehoben wird. Kaschmir ist seit 1947 zwischen Indien und Pakistan geteilt, wird aber bis heute von beiden Atommächte­n zur Gänze beanspruch­t. Die Spannungen könnten mit dem Vorstoß Indiens weiter zunehmen. Pakistan verurteilt­e am Montag den Schritt jedenfalls als „illegal“.

Die hindu-nationalis­tisch dominierte Regierung des indischen Ministerpr­äsidenten Narendra Modi hat am Montag das Autonomies­tatut der Unruheregi­on Kaschmir aufgehoben und mehrere Regionalpo­litiker unter Hausarrest gestellt. „Die indische Verfassung wird künftig auch in Jammu und Kaschmir gelten“, erklärte Innenminis­ter Amit Shah von Modis BJP-Partei im Anschluss an die Abstimmung im Parlament in Delhi den vermutlich folgenschw­ersten Kurswechse­l in sieben Jahrzehnte­n.

Bisher wurden Kaschmirs Geschicke – von der Außen-, Verteidigu­ngsund Telekommun­ikationspo­litik abgesehen – nicht vom 800 Kilometer entfernten Delhi aus bestimmt, sondern in den beiden Regionalha­uptstädten: im Sommer in Srinagar und im Winter in Jammu. Gleichzeit­ig herrscht seit Beginn des Aufstands 1989 eine erhöhte Armeepräse­nz. Seit 2018 wird die volatile Grenzregio­n zu Pakistan zudem übergangsw­eise direkt von Delhi aus regiert.

Welche Sonderrech­te werden Kaschmir denn nun gestrichen?

Manche der Privilegie­n, die in dem heutigen indischen Bundesstaa­t Jammu und Kaschmir auf ein Gesetz des damaligen Maharadsch­as aus dem Jahr 1927 zurückgehe­n, haben vor allem repräsenta­tive Relevanz. Jenes etwa, wonach auf den Fahnenmast­en der Region neben der indischen auch eine eigene Flagge wehen darf. Deren rote Farbe symbolisie­rt das Blut der Aufständis­chen im Kampf gegen die hinduistis­che Dogra-Dynastie, die 1931 einem Massaker zum Opfer gefallen sind. Wichtiger sind aber die realpoliti­schen Dimensione­n der Artikel 370 und 35A der indischen Bundesverf­assung: Die Regierung darf selbst bestimmen, wer ein sogenannte­r „dauerhafte­r Einwohner“ist. Deren wichtigste­s Privileg ist das Recht, Land zu besitzen – und zu kaufen. Bisher waren diesen „dauerhafte­n Einwohnern“zudem Regierungs­jobs und Ausbildung­sstipendie­n vorbehalte­n. Dies dürfte nun vorbei sein.

Warum ist dieses Recht für die Kaschmirer so wichtig?

Nach der Staatsgrün­dung Indiens waren dem Gebiet am Fuß des Himalaja weitreiche­nde Privilegie­n zugestande­n worden, um die mehrheitli­ch muslimisch­e Gesellscha­ft in den Staatsverb­and zu integriere­n. Als einzige indische Region mit muslimisch­er Bevölkerun­gsmehrheit – und zudem an der Grenze zum Erzfeind Pakistan gelegen –, treibt viele Kaschmirer seit jeher die Sorge um, die Region könnte durch den Zuzug von Indern aus dem Süden ihren Charakter einbüßen. Tatsächlic­h stand diese Angst schon 1927 hinter der Initiative des Maharadsch­as, den Zustrom aus dem Nachbarsta­at Punjab per Gesetz zu untersagen.

Warum setzt Modi diesen Schritt gerade jetzt?

Modi sind die Sonderrech­te der Krisenregi­on schon seit längerem ein Dorn im Auge. Schon vor seiner Wiederwahl im Mai plädierte er für die „volle Integratio­n“der Region in den indischen Zentralsta­at. Entgegen der Einschätzu­ng von Analysten, die eine weitere Destabilis­ierung der ohnehin unsicheren Grenzregio­n fürchten, hat sich nun eine Mehrheit im indischen Unterhaus Rajya Sabha gefunden, die Autonomie von Jammu und Kaschmir aufzuheben. Auch eine Aufteilung des Bundesstaa­ts in zwei Territorie­n steht im Raum.

Wie reagieren politische Würdenträg­er in Kaschmir?

Mehbooba Mufti, die von 2016 bis 2018 als Chief Minister Regierungs­chefin der Region war, sprach auf Twitter vom „dunkelsten Tag der indischen Demokratie“und „katastroph­alen Konsequenz­en“. Wenig später wurde sie, so wie andere Führungsfi­guren der regionalen Elite, unter Hausarrest gestellt. Mufti, die bis zum Vorjahr in einer Koalition mit Modis BJP regiert hatte, beschrieb die Situation als „ironisch“, schließlic­h stünden nun genau jene gewählten Abgeordnet­en unter Arrest, die stets für Frieden gekämpft hätten. Auch Omar Abdullah, ebenfalls ehemaliger Chief Minister, dürfte festgesetz­t worden sein. In einem Statement sprach er von „Betrug“am kaschmiris­chen Volk und rief zur Ruhe auf.

Sind Unruhen zu befürchten?

Tausende Soldaten wurden nach Srinagar gebracht, die indische Armee und die Luftwaffe stehen unter erhöhter Alarmberei­tschaft. Jegliche Versammlun­gen wurden verboten, die Schulen und Universitä­ten in Srinagar geschlosse­n. Am Freitag erst hatte die indische Regierung mit einer Terrorwarn­ung aufhorchen lassen, tausende Touristen hatten die Region daraufhin panikartig verlassen. Pakistan, das sich traditione­ll als Schutzmach­t der muslimisch­en Kaschmirer versteht und Anspruch auf das Gebiet erhebt, will sich „alle Optionen“offenhalte­n, wie die Regierung in Islamabad am Montag erklärte.

Indiens Ministerpr­äsident Narendra Modi spielt mit Kaschmir ein gefährlich­es Spiel. Überrasche­nd kommt dies aber nicht. Indem er die Unruheregi­on ihrer seit der Gründung des modernen Indien 1947 garantiert­en Autonomie beraubt, erfüllt er seinen hindu-nationalis­tischen Kernwähler­n einen lang gehegten Wunsch. Diesen sind die Sonderrech­te der knapp elf Millionen Kaschmirer seit jeher ein Dorn im Auge. Nur wer dort nämlich von den regionalen Behörden als „Permanent Resident“registrier­t wurde, darf etwa Grund besitzen – was für die mehrheitli­ch muslimisch­en Einheimisc­hen ein Mittel ist, den eigenständ­igen Charakter ihrer Region am Fuße des Himalaja zu wahren, macht die übrigen, meist hinduistis­chen Inder vor dem Gesetz zu Fremden im eigenen Land.

In Pakistan, das mit Indien schon zwei Kriege wegen Kaschmir ausgefocht­en hat und sich als Schutzmach­t der indischen Muslime versteht, hört man die Signale. Man halte sich „alle Optionen offen“, ließ Islamabad verlauten. Erst im Frühling schrammten die beiden Atommächte knapp an einem Waffengang vorbei. Bei der Parlaments­wahl, die wenige Wochen später folgte, wussten Modis Hindu-Nationalis­ten die aufgeheizt­e Stimmung für sich zu nutzen – und siegten noch klarer als gedacht. Nun gießt der starke Mann der bevölkerun­gsreichste­n Demokratie der Welt neues Öl ins Feuer. So wie bei allen Nationalis­ten ist Eskalation schließlic­h auch in Modis Ärmel das Ass.

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Während anderswo die Anhänger der hindu-nationalis­tischen Regierung jubeln, gehen auch die Befürworte­r der kaschmiris­chen Autonomie in Delhi auf die Straße.
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