Die Macht der Bilder
Die Medienberichte, vor allem die Fernsehbilder, die die Brutalität der Sicherheitskräfte gegen friedliche Demonstranten in Moskau am Samstag und eine Woche zuvor zeigen, und die Festnahme von insgesamt 2000 Personen haben Empörung, aber auch Rätselraten ausgelöst. Die Leute gingen auf die Straße, um gegen den willkürlichen Ausschluss von einigen Oppositionskandidaten bei den Wahlen des Moskauer Stadtparlaments am 9. September zu protestieren. Es geht um eine vergleichsweise unbedeutende lokale Wahl. Warum dann dieser massive
Einsatz Putin unterstellten der Präsident Nationalgarde, Wladimir samt Hausdurchsuchungen, mehr als 300 Strafen und sogar vier Verfahren wegen „Anstiftung zu Massenunruhen“, die mit fünf bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden kann?
Wovor hat die scheinbar seit so erfolgreiche, 20 Jahren politisch national-patriotische „Vertikale der Macht“Putins Angst? Warum kam es zu diesen dramatischen Vorgängen, die manche Beobachter sogar als die größte politische Erschütterung der letzten sieben Jahre bezeichnen?
Gerade in den letzten Wochen hat der Kreml wichtige Erfolge in der Außenpolitik errungen. Der Europarat hat Russland das Stimmrecht in der Parlamentarischen
Versammlung zurückgegeben. Eine Geste, die in Moskau als symbolträchtiger Schritt zur Legalisierung der Annexion der Krim als Teil Russlands angesehen wird. Auch das Treffen mit Donald Trump auf dem G-20-Gipfel in Osaka wurde positiv bewertet. Trump nannte Putin danach einen „nice guy“(netter Kerl). Der russische Schriftsteller Wiktor Jerofejew dürfte mit seiner Vermutung recht haben: Trump, ein Gefangener der Demokratie, könne den frei agierenden Diktator wahrscheinlich nur beneiden. Das inspiriere Putin, auf dem internationalen Parkett noch mehr Risiken einzugehen (FAZ, 8. 7. 2019).
Doch zeigen die undurchsichtigen Vorgänge im Kreml, dass
Russland trotz der Erfolge auf der Weltbühne (Ukraine, Syrien, Modernisierung der Streitkräfte) nach wie vor eine Großmacht auf tönernen Füßen sei.
Dder er Erhöhung Popularitätsschub wurde durch den vor des allem Krim-Erfolg Rentenalters Putins wegen um Jahr fünf praktisch Jahre im vollständig vergangenen eingebüßt. Die Reallöhne sinken seit sechs Jahren. Fast 21 Million Menschen gelten offiziell als arm, eine Steigerung um 500 000 in diesem Jahr. Die jüngere Generation zwischen 25 und 35 Jahren lehnt immer mehr die kostspieligen Großmachtambitionen ab. Die Fernsehbilder zeigten, dass junge Leute bei den letzten Demonstrationen dominierten.
Die patriotischen Hochgefühle können nicht mehr über die trostlose Wirtschaftslage hinwegtäuschen. Mit seinem selbstbewussten und herablassenden Auftritt, zuletzt mit pauschaler Liberalismuskritik, erweckt Putin den Eindruck, er sei übermächtig und kontrolliere alles in Russland. Es gab aber immer Interessengegensätze und persönliche Machtkämpfe innerhalb des Staatsapparats und vor allem in den Reihen von Militär und Geheimdiensten. Amerikanische Russlandexperten spekulieren bereits über die Dämmerung der Putin-Ära noch vor dem Ende seiner letzten Präsidentschaft 2024. Russland wird schwächer, aber deswegen nicht weniger gefährlich für den Westen.