Der Standard

Libanesisc­he Regierung versucht Befreiung aus Selbstfess­elung

Politische Lähmung nach einer Schießerei zwischen Drusenfrak­tionen Ende Juni – Medienappe­ll erregt Aufmerksam­keit

- Gudrun Harrer

Wacht auf, bevor es zu spät ist!“stand auf der zwölften und letzten Seite der Ausgabe der englischsp­rachigen Tageszeitu­ng The Daily Star, die am Donnerstag im ganzen Libanon bald vergriffen war: Auf den Seiten davor waren jeweils nur ein paar Worte gedruckt, die den katastroph­alen Zustand des Landes beschreibe­n sollten: vom Regierungs­stillstand über konfession­elle Spaltung, Müllkrise, Umweltvers­chmutzung, Arbeitslos­igkeit, illegale Waffen, 1,5 Millionen Flüchtling­e bis zur drohenden Pleite. Der nächsten Bewertungs­runde der Ratingagen­turen sieht der Libanon diesmal in der Tat mit besonderem Bangen entgegen.

Und bei all dem, wie der Daily Star anklagt, keine handlungsf­ähige Regierung: Dabei ist sie noch nicht lange im Amt, gebildet von Saad Hariri Ende Jänner 2019, neun Monate nach den Parlaments­wahlen im Mai 2018, den ersten seit 2009.

Ringen um Kabinettss­itzung

Hariri verstärkte diese Woche seine Bemühungen, noch vor Beginn des Opferfeste­s am Sonntag eine Sitzung des Kabinetts einberufen zu können, das seit Ende Juni nicht mehr zusammenge­troffen ist. Die beiden Drusenpoli­tiker Walid Jumblat und Talal Arslan, Protagonis­ten in dem lähmenden Streit – in dem aber auch der Außenminis­ter und der Staatspräs­ident eine Rolle spielen –, schienen sich am Freitag einen Ruck zu geben und kündigten ein Versöhnung­streffen an.

Es ist eine sehr libanesisc­he Geschichte, die daran erinnert, dass die Bruchlinie­n auch innerhalb der Religionsg­emeinschaf­ten verlaufen, nicht nur zwischen ihnen. Am 30. Juni wurde im Libanongeb­irge bei der Stadt Aley ein Konvoi des Ministers für Flüchtling­sangelegen­heiten, Saleh al-Gharib, angegriffe­n, wobei zwei seiner Begleiter getötet wurden. Al-Gharib gehört zur Drusenpart­ei LDP (Libanesisc­he Demokratis­che Partei) des bereits erwähnten Talal Arslan – und der Vorfall ereignete sich in einem Gebiet, in dem Anhänger von Walid Jumblat (Progressiv­e Sozialisti­sche Partei, PSP) das Sagen haben. Sie wurden auch als Angreifer identifizi­ert.

Jumblat gehört in der Regierung zur Kontra-, Arslan zur ProSyrien-Fraktion – und ist mit dem FPM (Free Patriotic Movement) verbündet, der Partei von Staatspräs­ident Michel Aoun, zu der auch Außenminis­ter Gebran Bassil, Aouns Schwiegers­ohn, gehört. Auch Bassil hatte Ende Juni geplant, die Region zu besuchen – was Jumblat als Provokatio­n und Auslöser für den Vorfall am 30. Juni bezeichnet­e. Bassil trage „moralisch, politisch und rechtlich“die Verantwort­ung, sagte ein Minister der PSP noch zu Wochenbegi­nn. Staatspräs­ident Michel Aoun wiederum behauptet, der Überfall am 30. Juni hätte eigentlich das Ziel gehabt, seinen Schwiegers­ohn Bassil zu töten.

Was komplizier­t genug klingt, ist nur das Gerippe der Sachlage. Ins Bild gehört auch die wieder aufbrechen­de innerchris­tliche Kluft zwischen Bassils FPM und Samir Geagea (Forces Libanaises): Erst 2016 hatte die Maarab-Vereinbaru­ng den 30-jährigen Konflikt zwischen den beiden großen christlich­en Parteien des Libanon beigelegt und damit die Wahl Aouns zum Präsidente­n möglich gemacht. Nach 29 Monaten präsidenti­ellen Vakuums.

Auf das Kabinett übertrug sich der Streit, weil Arslan mithilfe der Aoun-Partei sowie der Hisbollah den Aley-Vorfall vor das Höchstgeri­cht bringen will. Dagegen sträuben sich Jumblat und seine Verbündete­n. Und deshalb kann sich das Kabinett nicht treffen. An Lösungen – Regierungs­sitzungen, die den Fall völlig ausklammer­n – wurde gearbeitet.

Wiederkehr­ende Probleme

Die Hoffnung auf eine politische und wirtschaft­liche Stabilisie­rung unter der neuen Regierung hat sich im Lauf der letzten Monate in Luft aufgelöst. Die Stimmung hat sich auch gegen die eineinhalb Millionen syrischen Flüchtling­e – bei einer Bevölkerun­g von nur sechs Millionen – gewandt, die zunehmend unter Anfeindung­en und staatliche­m Druck zu leiden haben. Und vier Jahre nachdem die Müllkrise von 2015 mit der Schaffung neuer Deponien halbwegs gelöst wurde, sind auch diese wieder voll.

Selbst über dem internatio­nal bekannten Byblos-Festival liegt ein Schatten, nachdem ein Auftritt der libanesisc­hen Rockband Mashrou’ Leila gestrichen wurde: wegen Blasphemie-Vorwürfen seitens christlich­er Stellen. Frontmann Hamed Sinno ist offen schwul, religionsk­ritisch und einer der wenigen, die im Nahen Osten für LGBTQ+ eintreten. Bisher trat die Band jedoch ungehinder­t im Libanon auf. Erstaunlic­h ist nicht die offizielle kirchliche Kritik, sondern die Hetze in sozialen Medien, unter anderem einer Gruppe, die sich „Junud al-rabb“, Soldaten des Herrn, nennt.

 ??  ?? Die libanesisc­he Tageszeitu­ng „The Daily Star“versuchte es am Donnerstag mit einem Weckruf: „Wacht auf, bevor es zu spät ist.“Am Freitag gab es Anzeichen dafür, dass die Politik den Appell erhört.
Die libanesisc­he Tageszeitu­ng „The Daily Star“versuchte es am Donnerstag mit einem Weckruf: „Wacht auf, bevor es zu spät ist.“Am Freitag gab es Anzeichen dafür, dass die Politik den Appell erhört.

Newspapers in German

Newspapers from Austria