Von Woodstock bleibt der Mythos
Dieser Tage vor 50 Jahren ging auf einer Wiese in den USA Woodstock über die Bühne. Eine Neuauflage zum Jubiläum ist gescheitert. Was macht den anhaltenden Mythos des Festivals aus?
Es klang nach einem Plan. Mit seinem Kumpel wollte Jim Shelley am Freitagabend nach Woodstock fahren, um sich für das Konzert am nächsten Tag, dem zweiten des Festivals, einen guten Platz auf der Wiese zu sichern. Am Samstagabend sollte es zurückgehen ins knapp zwei Autostunden entfernte New Jersey und Sonntagfrüh wieder hin. Dann aber mit Joyce, Jims Freundin, deren Eltern dem Mädchen verboten hatten, eine Nacht allein mit einem Jungen auf einer Wiese zu verbringen. „Sie können sich vorstellen, wie gründlich der Plan ins Wasser fiel“, sagt Shelley und zeigt Fotos vom zugeparkten Highway, auf dem nichts mehr ging.
Jim Shelley war im August 1969 gerade 19 Jahre alt. Kein Hippie, sondern ein Teenager, der in den Sommerferien auf einer New Yorker Baustelle malochte, um sein Studium zu finanzieren. Und Woodstock war nicht Woodstock, sondern ein Dorf namens Bethel, malerisch gelegen in den Catskills, einem Mittelgebirge mit stillen Seen. Woodstock, der Ort, hatte sich rund neunzig Kilometer entfernt einen Ruf als Rückzugsort der Kreativen erworben, seit Bob Dylan Mitte der 60er dort hingezogen war. Vier Jungunternehmer, die die Firma Woodstock Ventures gründeten, um ein Freiluftkonzert zu veranstalten, bedienten sich des Namens, weil sie ein Lebensgefühl vermitteln wollten: rebellisch gegen den Strich, aber das möglichst lässig.
Zunächst sollte ihr Festival näher an New York über die Bühne gehen – was sich zerschlug, als die Bürger des Ortes Wallkill angesichts des zu erwartenden Ansturms von jungen Menschen mit langen Haaren, die womöglich Rauschgift in ihren Rucksäcken haben würden, kalte Füße bekamen. Vier Wochen vor dem Konzert sprang der größte Milchbauer der Region ein, dem am Rande von Bethel eine sanft gewellte Wiese gehörte.
Unverhofftes Etwas
Nur war die Zeit zu knapp, um einen lückenlosen Zaun um das Gelände zu ziehen und Kassenhäuschen aufzustellen. Also erklärten die Organisatoren Woodstock zu einem freien Konzert, womit sie zwar den finanziellen Ruin in Kauf nahmen, aber ungewollt auch das Besondere ihres Festivals betonten. „Nichts lief, wie es laufen sollte, deshalb wurde es Woodstock“, sagt Shelley.
Jedenfalls ließen Shelley und sein Freund ihren Oldsmobile zwölf Kilometer vor der Wiese stehen, um den Rest der Strecke zu laufen, ausgerüstet mit Schlafsäcken, einem Fernglas und einem Fotoapparat. Damit machte Shelley Bilder, die noch immer auf Poster gedruckt werden. Etwa eines davon, wie hinter Baumwipfeln die Sonne aufgeht und die Campierenden noch immer Musik hören, weil noch immer eine Band spielt und kein Zeitplan mehr etwas gilt.
Shelley macht ein Bild nach dem anderen. Es sind auch Aufnahmen dabei, die dem Mythos Woodstock das Mythische nehmen. Blumenkinder, LSD, freie Liebe, das war der Mythos. Das stimmte ja, sagt Shelley. Nur habe sich bei weitem nicht jeder im Stil von Flowerpower gekleidet, Drogen genommen, Sex im Gras gehabt. Als der zweite Konzerttag begann, war Shelley keineswegs aus dem Häuschen: Quill, eine Band aus Neuengland, kein großer Name. „Zu dem Zeitpunkt konnte niemand ahnen, dass daraus einmal Woodstock werden würde.“
Irgendwann schwirrte das Gerücht herum, die Polizei habe eine Autobahn durch den Bundesstaat New York sperren müssen, weil die Blechkarawane der Woodstock-Pilger einen Abschnitt in einen Parkplatz verwandelt habe. „Wie cool ist das? Wir haben’s ihnen gezeigt!“, erinnert sich Shelley. Wie er es schildert, war es eine Retourkutsche gegen die braven Bürger, die weder die Musik noch die Frisuren noch die Mode ihrer Kinder mochten, auch nicht deren Vietnamkriegsproteste. Die Schnellstraßensperre erwies sich als falsch, doch in Shelleys Erinnerung sprach das Gerücht Bände. Nichts schien unmöglich. Seine Generation entdeckte ihre Kraft.
Ein Wunder, dass bei mindestens vierhunderttausend Menschen, gut dem Doppelten dessen, womit die Veranstalter gerechnet hatten, alles friedlich blieb. Obwohl das Essen nicht lang reichte.
Als am Sonntag gegen acht Uhr Jefferson Airplane die Bühne betraten, rief Sängerin Grace Slick der müden Menge zu: „It’s a new dawn“. Klar, die Sonne war aufgegangen, aber, sagt Shelley, „dass wir hier gerade eine neue Zeit anbrechen lassen, so haben wir es damals verstanden“. Dann sang Joe Cocker, „noch nicht der große Joe Cocker, sondern einfach Joe Cocker“. Dann kam der Regen, der Teile der Wiese in ein Schlammfeld verwandelte, was die meisten den Rückweg antreten ließ. Am Montagmorgen, als Jimi Hendrix die US-Hymne mit seiner Gitarre förmlich zerfetzte, war Shelley schon wieder auf der Baustelle.
Bemühungen um die Magie
Im Jahr darauf kam Woodstock in die Kinos, der Dokumentarfilm, der aus einem Konzert eine Legende machte. 2008 eröffnete in Bethel ein Museum, und es wurden Freiwillige gesucht, die Besuchern erzählen konnten, wie es damals war. Shelley meldete sich. Er führt jetzt an einem Erinnerungsort, der wie die Antithese zum einstigen Gefühl wirkt: gepflegte Beete, gepflasterte Wege, Torte zu saftigen Preisen.
Carol Hummel hingegen versucht, den Geist von Woodstock wieder aufleben zu lassen, indem sie in einem Wäldchen, in dem damals Kunstbuden standen, Bäume mit bunten Rosettenmustern behäkelt. Die Motive sollen irgendwie an Indien denken lassen, an das Land, aus dem vieles kam, was die Gegenkultur der Blumenkinder prägte. Um die Fragen von damals gehe es auch heute: „Amerikas Rolle in der Welt. Individuelle Freiheit und zugleich individuelle Verantwortung. Auf andere zugehen oder sich abgrenzen.“
Das Woodstock-Gefühl? „Es war Magie“, sagt Jeff, der damals auch dabei war. „Magie kannst du nicht erzwingen. Magie kannst du nicht wiederholen.“Damit meint der 72Jährige den Versuch, ein halbes Jahrhundert Woodstock mit einem Revival zu feiern. Erst hatte Michael Lang, der kreative Antreiber von damals, eine Autorennstrecke, dann eine Pferderennbahn im Staat New York dafür ausgesucht, schließlich wich er auf eine Arena in der Nähe von Baltimore aus, bis er letztendlich das Handtuch warf. Im Juni waren die Geldgeber aus Japan abgesprungen, im Juli hatten, angesichts des geplanten Ortswechsels, die Künstler abgesagt: Santana, Jay-Z, Miley Cyrus. Jeff sieht sich durch den Flop bestätigt in seiner Überzeugung, dass Woodstock etwas Einmaliges war und nicht in die heutige Zeit zu verpflanzen ist.
Wofür steht Woodstock? War es die Krönung der Antikriegsbewegung? Das Schlusskapitel der turbulenten 60er? Oder der Versuch von Unternehmern, im Nachhinein Geld zu machen? Womöglich alles in einem, meint ein anderer Zeitzeuge, bevor er das Woodstock-Gefühl so fasst: „Es waren Leute, die den Trott satthatten und nach etwas Neuem suchten.“