Der Standard

So ringt sich Aker Al Obaidi durch

Der gebürtige Iraker Aker Al Obaidi kam als Flüchtling nach Österreich und fand im kleinen Tiroler Ort Inzing eine neue Heimat. Jetzt ringt er sich nicht mehr durchs Leben, dafür ringt er aber umso erfolgreic­her auf der Matte.

- Andreas Hagenauer

Budapest, 2015. Ein Garten, es ist dunkel, nachts. Aker Al Obaidi versteckt sich im Gebüsch. Seit seiner Flucht aus der irakischen Stadt Mossul sind zwei Monate vergangen. Die ungarische Polizei und das Militär suchen nach illegalen Flüchtling­en. Der damals 14-Jährige weiß, wenn sie ihn erwischen, wird es schlimm. Andere wurden erwischt, es setzte Prügel, Erniedrigu­ng und Rückführun­g.

Der Teenager bewahrt die Ruhe, das hat er beim Ringen gelernt. Er kennt seine Kräfte, seine Möglichkei­ten. Angriff oder Verteidigu­ng, den Gegner einschätze­n. Neben dem Gebüsch steht ein Polizist oder ein Soldat, so genau ist das in der Budapester Nacht nicht zu erkennen. Aker hält den Atem an. Der Polizist (oder Soldat) verharrt kurz, dann geht er weiter. Der Bub aus Mossul wird nicht erwischt, er schafft es mit anderen in einem Auto bis nach Österreich. Sie werden angehalten, er kommt ins Erstaufnah­mezentrum Traiskirch­en.

Jetzt sitzt Aker Al Obaidi in einem Café in der Innsbrucke­r Innenstadt. Er sieht so aus, wie viele 19-Jährige aussehen. Die Jeans hat Löcher, das schwarze T-Shirt sitzt nicht zu eng, die Sneaker sind cool. Zwischendu­rch lacht er, und obwohl Al Obaidi nicht perfekt Deutsch spricht, bringt er sich immer wieder in das Gespräch ein, er will erzählen, von seiner Flucht aus dem Irak, seiner Zeit in Traiskirch­en, dem Zwischenst­opp in der Steiermark und von Inzing, der neuen Heimat in Tirol. Seiner „richtigen Heimat“, wie er betont. Auf seinen Händen sind Rückstände von weißer Farbe. Al Obaidi kommt direkt von seiner Lehre in einem Malerbetri­eb. Wie jeden Wochentag: zuerst arbeiten, dann „Matte“, also trainieren.

Das Ziel heißt Olympia

Seine Augen strahlen vor allem dann, wenn er über das Ringen spricht. „Ich weiß, dass ich Talent habe, und ich weiß, dass ich viel erreichen kann“, sagt er. Olympische Spiele seien das Ziel, „vielleicht eine Medaille“. Am liebsten für Österreich, denn hier hat Al Obaidi ein Zuhause gefunden. Und nicht nur das: „Der Much und seine Frau sind meine neue Familie. Er ist wie ein Vater für mich.“Der Much heißt eigentlich Klaus Draxl, ist im Vorstand des Ringervere­ins RSC Inzing und ein bekannter Name im österreich­ischen Ringsport. Der 54-Jährige hat seinen Schützling auch ins Café in Innsbruck begleitet. „Aker hat riesiges Talent. Und darüber hinaus ist er ein richtig feiner Kerl. Das perfekte Beispiel für gelungene Integratio­n.“

Sein Talent bewies der junge Mann im Juni: Bei der JuniorenEM in Pontevedra in Spanien holte er Bronze in der Klasse bis 67 kg (griechisch-römischer Stil). Der größte Erfolg seiner jungen Karriere. So soll es weitergehe­n. „Er wird uns noch große Freude bereiten“, sagt Klaus Draxl.

Aker Al Obaidi wuchs in Mossul auf. 2014 übernahm der „Islamische Staat“die Kontrolle über die nordirakis­che Stadt. Al Obaidis Vater ist eine große Nummer im Ringsport, im Trainersta­b der Nationalte­ams des Iraks und des Irans. „Meine Mutter wollte, dass ich in die Schule gehe, aber mein Vater war dagegen. Ich sollte nur trainieren“, erinnert sich Al Obaidi. Die Ringerkind­er waren für den Vater eine Wertanlage, er wollte Provisione­n kassieren.

Doch Aker war die Schule wichtig. So wartete er, bis der Vater aus dem Haus war, und schlich sich in den Unterricht. Die Schule ging bis zwölf Uhr, Aker ging jeden Tag ein bisserl früher heim, um rechtzeiti­g auf der Trainingsm­atte zu stehen, wenn der Vater heimkam. Sonst hätte es Schläge und Tritte gesetzt. Körperlich­e Züchtigung war normal. Während er zu Hause seine eigenen Kämpfe ausfocht, wurde das Leben in Mossul unter dem IS immer heikler. Al Obaidi und seine Mutter sind Christen, für den Vater war „Ringen die einzige Religion“.

Traiskirch­en

Der 14-Jährige ergriff gemeinsam mit einer Nachbarin die Flucht. Über die Türkei, Griechenla­nd, Nordmazedo­nien, Serbien und Ungarn schaffte er es nach Österreich. Al Obaidi erinnert sich an seine erste Zeit hier: „Das Leben in Traiskirch­en war gar nicht gut. Überall waren Gruppen von Männern, die geraucht und Alkohol getrunken haben. Es gab oft Streit. Ich war 14 und allein.“Besonders schwierig waren die Essenszeit­en. „Man musste sich zu jedem Essen eine Stunde anstellen. Manchmal haben mir dann Männer aus der Schlange gesagt, dass ich mich wieder ganz hinten anstellen soll.“

Später kam Al Obaidi in ein Heim für unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e in Deutschfei­stritz in der Steiermark, dann übersiedel­te er nach Graz. Und fand zurück zum Ringen. Er trainierte bei einem Grazer Verein, so richtig klappen wollte das aber nicht. Mit dem Trainer hatte er „kein gutes Verhältnis“. 2017 wurde der RSC Inzing, also Much Draxl, auf den jungen Ringer aufmerksam und lud ihn ein. Al Obaidi nahm an einem Probetrain­ing und an der Weihnachts­feier teil und sah sich die Vereinsmei­sterschaft­en der Kinder an. „Er hat zwei Tage bei uns gewohnt, anschließe­nd fragte ich ihn beim Frühstück, ob er sich vorstellen könne, für Inzing zu ringen.“

Seit Februar 2018 wohnt Al Obaidi fix in Tirol. „Ich habe meine Mutter und meine Geschwiste­r vermisst, aber Heimweh hatte ich nie. Wenn ich jetzt auf Trainingsl­ager im Ausland bin, will ich so schnell wie möglich wieder zurück nach Inzing. Das ist Heimweh.“Und der Irak? „Was habe ich dort? Nichts. Dort sterbe ich.“2018 traf er sich mit seiner Mutter in Teheran. In den Irak darf und will er auch gar nicht zurück. Draxl half ihm, in Tirol Fuß zu fassen, Al Obaidi konnte seine Lehre zum Maler und Anstreiche­r, die er in Graz nach seinem Hauptschul­abschluss begonnen hatte, bei einem kleinen Betrieb in Inzing fortsetzen. Er arbeitet und ist zufrieden. Und man ist auch mit ihm zufrieden. Draxl: „Sein Lehrherr kommt jetzt immer wieder zu Wettkämpfe­n. Er ist ein richtiger Ringfan geworden.“

Technik und Wille

Al Obaidi hat in der 3847Einwoh­ner-Gemeinde eine kleine Garçonnièr­e bezogen. Im Mittelpunk­t seines Lebens steht das Ringen. Der 19-Jährige hat eine exzellente Technik und den Siegeswill­en, der im Ringen unumgängli­ch ist. Ein fertiger Ringer ist er aber noch nicht. „Mittlerwei­le kennen meine Gegner meine Technik und können sich besser einstellen. Meine Trainer helfen mir dabei, neue Styles in mein Ringen zu bringen. Als ich nach Inzing kam, war ich ungefähr bei fünf, jetzt bin ich bald bei zehn.“

Für 2019 hat Al Obaidi die österreich­ische Sportnatio­nalität. Sie muss jährlich beantragt werden, das kostet stets 5000 Schweizer Franken. Das heißt, dass er Österreich internatio­nal (außer bei Olympische­n Spielen) vertreten kann. Die Zustimmung des irakischen Verbandes war kein Problem, der Vater legte ein gutes Wort ein. Schon bei seinem ersten Wettkampf, den Austrian Open in Götzis, holte Aker Silber. Nächstes Ziel ist die Junioren-WM, die heute, Montag, in Tallinn beginnt. Draxl: „Aker ist in Topform. Er will Gold.“Eine Medaille sei auf jeden Fall möglich.

Ziel ist auch die Staatsbürg­erschaft. „Nach fünf Jahren kann man sie beantragen, bei herausrage­nden sportliche­n Leistungen schon früher. Und seine Leistungen sind herausrage­nd“, sagt Draxl. Eine andere, kleine Möglichkei­t für einen Start bei den Spielen in Tokio 2020 wäre das Refugees-Programm des IOC, das 2016 in Rio erstmals zehn Sportlerin­nen und Sportlern mit Flüchtling­sstatus eine Teilnahme ermöglicht hatte.

Manchmal, wenn Aker Al Obaidi durch Inzing spaziert, wird er gefragt, wie es seinem Vater geht. „Danke“, sagt er dann, „dem Much geht es gut.“

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Im Juni feierte Aker Al Obaidi als Junioren-EM-Dritter seinen größten Erfolg. So soll es weitergehe­n.

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