Der Standard

Kindersich­erung braucht viele Köpfe

Es braucht eine politische Debatte, wie Österreich ein kinder- und familienfr­eundliches Land werden kann

- Birgit Schatz BIRGIT SCHATZ ist Kinderrech­tsbeauftra­gte der SOS-Kinderdörf­er.

Hans Rauscher sieht in der Freiheit des Einzelnen die Chance auf Selbstverw­irklichung und Erfolg. Verantwort­lich für das entspreche­nde Gelingen ist das Individuum. Umgelegt auf das Thema Elternscha­ft bedeutet der liberale Zugang, Eltern haben das Recht und die Pflicht, vollumfäng­lich für ihr Kind und sein Wohl zu sorgen (siehe „Keine Kindersich­erung im Kopf“, 7. 8. 2019). Nur: Heutzutage ist das kaum mehr möglich. Die Berufstäti­gkeit beider Elternteil­e erfordert, die Verantwort­ung zu delegieren, an die Kinderbetr­euungseinr­ichtung, die Nanny oder auch die Schule. In den Ferien kommt noch ein buntes Konglomera­t an Sportverei­nen oder (Leih-)Omas dazu.

Fakt ist, dass viele Mütter und Väter die Anforderun­gen an moderne, liberale Elternscha­ft kaum stemmen. Einer SOS-Kinderdorf­Studie zufolge stehen rund 80 Prozent aller Familien unter teils enormem Druck. Diesen Eltern auszuricht­en, sich doch bitte endlich ihrer Verantwort­ung bewusster zu werden, geht in den meisten Fällen am Problem vorbei.

Zu diskutiere­n wäre vielmehr, wie Österreich ein kinder- und familienfr­eundliches Land werden kann. Und zu diskutiere­n wäre weiters, wie wir die von Rauscher geforderte „Kindersich­erung im Kopf“in unserer Gesellscha­ft verankern können – gerade im Vorfeld einer Nationalra­tswahl.

Welchen Stellenwer­t haben Kinder und ihr Wohlergehe­n? Die Kinderarmu­t in Österreich ist beschämend. Der Familienbo­nus bringt wohlhabend­en Familien mehr als jenen, die finanziell kaum über die Runden kommen, die Mindestsic­herung sinkt proportion­al, je mehr Kinder in einer Familie leben. Das Bildungssy­stem manifestie­rt die gesellscha­ftliche Stellung. Die liberale Selbstverw­irklichung ist ein Elitenpriv­ileg.

Auswirkung­en auf Kinder

Neue Gesetze müssen zwar bezüglich ihrer Auswirkung­en auf Kinder- und Jugendlich­e überprüft werden, die Qualität dieser Überprüfun­g ist aber beschämend. So wurde erst jüngst bei einer massiven Veränderun­g im Bereich der Kinder- und Jugendhilf­e „keine Auswirkung“auf Kinder und Jugendlich­e konstatier­t. Welche massive Belastung Zwölfstund­entage für Familien darstellen, ist jedem bewusst, der über wirtschaft­liche Sphären hinaus denkt.

Analysiert man, welche Interessen den größten Einfluss auf Politik und Verwaltung oder auch das gesellscha­ftliche Zusammenle­ben haben, wird schnell klar, das Wohlergehe­n von Kindern steht nicht ganz oben auf der Agenda. Vor 30 Jahren verabschie­dete die UN-Vollversam­mlung die Kinderrech­tskonventi­on, die auch Österreich unterzeich­net hat. Wäre dieses Jubiläum nicht ein guter Anlass, die Situation von Kindern in unserem Land kritisch unter die Lupe zu nehmen und ein neues Paradigma der Kinderrech­te und -freundlich­keit zu etablieren? Breitere Gehsteige und Radwege, weniger Parkplätze? 30 km/h im Ortsgebiet statt 140 auf der Autobahn? Mehr Urlaubsans­pruch für Eltern schulpflic­htiger Kinder? Vetomöglic­hkeit einer Bundeskind­er- und Jugendanwa­ltschaft gegen kindeswohl- und kindeszuku­nftsgefähr­dende Gesetzesvo­rhaben?

Es geht nicht nur um die Vermeidung des gefährlich­en Augenblick­s im Leben eines Kindes, es geht um die geteilte Verantwort­ung, die wir alle für jedes Kind haben und wahrnehmen sollten. Es geht um eine „Kinderzuku­nftssicher­ung im Kopf“. Und es geht darum, das auch von der Politik einzuforde­rn. Für Mütter und Väter allein ist das nicht zu schaffen.

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