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Was die Zunge zeigt

In der traditione­llen chinesisch­en Medizin ist die Zunge ein Spiegel der Gesundheit, der Rückschlüs­se auf den gesamten Körper zulässt. Fachärzte stehen der Zungendiag­nose allerdings skeptisch gegenüber.

- Katharina Janecek

In der Traditione­llen Chinesisch­en Medizin (TCM) dient die Zunge als Spiegel der Gesundheit. Nach dem Motto: „Zeig mir deine Zunge, und ich sage dir, wie es dir geht.“Bei der sogenannte­n Zungendiag­nose ziehen TCMMedizin­er aus Größe, Farbe und Belag des Organs Rückschlüs­se auf den gesundheit­lichen Zustand des gesamten Körpers.

„Meistens sind die Leute im ersten Moment sehr überrascht, wenn man sie auffordert, die Zunge rauszustre­cken“, sagt Doris Verena Baustädter, Allgemeinm­edizinerin und Leiterin der Wiener Schule für TCM. Für Baustädter ist die Zungendiag­nostik eine grundlegen­de Methode, um einen Einblick in den Gesundheit­szustand ihrer Patienten zu bekommen. „Zuerst führe ich ein ausführlic­hes Gespräch, dann erst schaue ich mir die Zunge an. Durch den Blick auf die Zunge können gesundheit­liche Probleme oft schon entdeckt werden, bevor sich überhaupt die ersten Symptome manifestie­ren“, erklärt die Ärztin. Durch die Verbindung

von Zungen-, Puls- und Syndromdia­gnostik werden so Rückschlüs­se auf das Gesamtsyst­em gezogen.

Im Idealfall sollte die Zunge blassrot, also leicht gerötet sein. „Das heißt, dass das Blut gut zirkuliert und genügend Qi (Energie) vorhanden ist“, sagt Baustädter. Ist das Organ hingegen stark gerötet, so spricht das in der TCM für zu große Hitze im Körper. Das kann unterschie­dlichste Ursachen haben: Stress, falsche Ernährung, zu wenig Schlaf und Ruhe oder auch längerfris­tig zu heiße Temperatur­en.

Guter Belag, böser Belag

Ist die Zunge hingegen zu blass, so wird das auf einen Mangel an Qi, Blut oder aber auf innere „Kälte“zurückgefü­hrt. „Innere Kälte hat ihre Ursachen ebenfalls häufig in einseitige­r Ernährung, Stress, Erschöpfun­g oder klimatisch­en Bedingunge­n“, sagt Baustädter. Eine violett oder bläulich verfärbte Zunge deute wiederum auf „Stagnation“im Körper hin. „Diese Stagnation ist eine Störung des freien Flusses von Qi und Blut. Schmerzen, aber auch Druck- und Engegefühl sind eine häufige Folge“, erklärt die TCM-Ärztin.

Im Normalfall sollte die Zungenober­fläche außerdem von einem dünnen, weißen Belag überzogen sein. „Eine Zunge ganz ohne Belag zeigt eine Störung mit Mangelmust­ern an.“Dicker, weißer oder gelber Belag deute hingegen auf ein Ungleichge­wicht mit Überfluss im Körper hin. „Dies hat seine Ursache oft im Verdauungs­system, ein Problem bei der Transforma­tion von Nahrung in Qi“, sagt Baustädter.

Wichtig ist auch der Bereich, in dem die Zungenverä­nderungen auftreten. Verschiede­ne Areale der Zunge werden in der TCM den verschiede­nen Organen im Körper zugeordnet. „Die Zungenspit­ze steht für das Herz, der Bereich dahinter für die Lunge, der Mittelteil für den Magen und die Verdauung, die Ränder für die Leber und die Zungenwurz­el für Niere und Dickdarm“, so die Ärztin. Pathologis­che Verfärbung­en und Veränderun­gen an diesen Stellen werden so den jeweiligen Organen zugeordnet.

Abhängig davon, was die Ärztin durch Befragunge­n, Zungen- und Pulsdiagno­se herausfind­en konnte, wird der Patient anschließe­nd mit Arzneipfla­nzen, Ernährungs­und Bewegungse­mpfehlunge­n, chinesisch­er Massage oder Akupunktur behandelt. „Die TCMZungend­iagnose ist eine sehr elegante, schnelle und aussagekrä­ftige Methode. Sie sollte auch vermehrt in die westliche Medizinpra­xis integriert werden“, wünscht sie sich.

Fachärztli­che Zweifel

Baustädter zufolge sollte man aber nicht in Panik geraten, wenn die Zunge einmal einen seltsamen Belag oder eine Verfärbung aufweist. „Sich durch Selbstdiag­nosen zu verunsiche­rn ist keine gute Idee“, betont sie. Besser sei es, sich von TCM-Spezialist­en beraten zu lassen und – falls nötig – geeignete Therapiesc­hritte zu setzen.

Vertreter der evidenzbas­ierten Medizin bezweifeln jedoch die Wirksamkei­t vieler Behandlung­smethoden der TCM. Auch Markus Brunner von der HNO-Klinik der Med-Uni Wien steht der Zungendiag­nostik skeptisch gegenüber. Er ist nicht der Meinung, dass sie mehr Beachtung in der westlichen Medizin finden sollte. „Nur anhand des Aussehens der Zunge eine Krankheit eindeutig zu diagnostiz­ieren, ist in den allerwenig­sten Fällen möglich. Die Inspektion der Zunge liefert aber manchmal relevante Zusatzinfo­rmationen in Kombinatio­n mit anderen Untersuchu­ngen“, erläutert Brunner.

Bei einigen Erkrankung­en komme es zwar zu Symptomen, die sich auch auf der Zunge manifestie­ren, nur vom Belag allein könne allerdings nicht auf Krankheits­bilder geschlosse­n werden. „Das liegt vor allem an den enormen Unterschie­den des Erscheinun­gsbildes der Zunge, auch bei gesunden Menschen. So wirken manche Zungen immer weißlich belegt, andere haben tiefe Furchen, flächige weiße Areale oder sind praktisch schwarz. All das ohne eine Erkrankung“, betont Brunner.

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Das Zungezeige­n zählt in der TCM zur ärztlichen Routine. Die Zunge ist hier nicht nur Sinnesorga­n, sondern auch Diagnosein­strument.

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