Duell der Verschollenen
Beim Wettkampf in Abu Dhabi tauschten der Stratege Peter Leko und der Kreativspieler Alexander Morosewitsch die Rollen. Von beiden hatte man lange nichts gehört.
Es gibt nur wenige Autoren, denen es gelang, erfolgreich die Sprache zu wechseln. Joseph Conrad wechselte vom Polnischen ins Englische, Vladimir Nabokov schrieb seine ersten vier Romane auf Russisch, um dann, wie er sagte, seine herrliche Muttersprache gegen ein armseliges Englisch einzutauschen. Wenigen Künstlern gelingt es, „ihren“Stil zu wechseln. Eine Ausnahme war Raymond Queneau. Sein Band Exercices de style („Stilübungen“), erschienen 1947 in Paris, ist ein regelrechtes literarisches Wechselbad. Queneau kleidet eine kleine, an sich banale Geschichte in 99 unterschiedliche Stile ein, ebenso souverän wie spielerisch. Das kunstvolle, chamäleonartige Spiel ist natürlich ein hämisches Spiel mit der Kunst und ihren Möglichkeiten.
„Ihren“Stil zu wechseln, fällt auch Schachspielern äußerst schwer. Der Vorsichtige bleibt zumeist lebenslang vorsichtig, der Taktiker sucht intuitiv stets nach taktischen Lösungen, bevor er sich ans strategische Planen macht. Der Prozess der Veränderung ist zumeist ein Prozess der Verflachung oder ein Versuch, einen Ausweg aus einer schöpferischen Sackgasse zu finden. Eine seltsame Stilumkehr konnte man allerdings beim Wettkampf zwischen Peter Leko (Ung) und Alexander Morosewitsch (Rus) in Abu Dhabi beobachten: Der frühere Remisspezialist Leko entpuppte sich plötzlich als wütender Angriffsspieler, während der einstige wilde Kreativspieler Alexander Morosewitsch erstaunlich passiv wirkte. Es war im Übrigen ein Duell zweier Verschollener: Leko hat sich sukzessive seit 2008 vom Spitzenschach zurückgezogen
und arbeitete in den letzten Jahren vor allem als Sekundant, Morosewitsch wirkte seit 2013 mehr oder minder im Verborgenen als Schachtrainer in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Der Ungar gewann überlegen 11,5 – 4,5. Hier die Partie aus der 2. Runde.
Leko – Morosewitsch
Abu Dhabi 2019
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 Alte Eröffnungssysteme sind nicht zuletzt dank Carlsen wieder in Mode.. 4.d3 Die moderne Interpretation, 4.Sg5 oder 4.d4 sind heute kaum noch anzutreffen. 4...
h6 5.0–0 d6 Der Übergang in Italienisch mit 5... Lc5 wäre angebracht, doch Moro hat ganz andere Pläne. 6.c3 g5!?
Ein überraschender Vorstoß am Königsflügel. 7.Lb3 Lg7 Vorwitzig wäre 7... g4?!
8.Se1 h5 9.f4! 8.Sbd2 0–0
9.Sc4 Dem Springer winkt auf e3 eine glänzende Zukunft. 9... Se7 10.h4!? Der Widerlegungsversuch. Der „alte“Leko hätte sicher zu 10.h3 gegriffen. 10... gxh4?! Besser war es, die Stellung mit 10... g4 11.Sh2 h5 geschlossen zu halten. 11.Sxh4 Lg4 12.De1 Le6 13.f4! Leko öffnet die Stellung kraftvoll am Königsflügel.
13… exf4 14.Lxf4 a5
15.Se3 Die Motive Lxh6 und e4-e5 hängen in der Luft, doch Leko zieht es vor, seine Stellung weiter zu verstärken. 15… a4 Will Weiß verleiten, auf e6 zu schlagen, wonach der weiße Vorteil schwinden würde.
16.Lc2 c5?! Provokant. Um dem Einschlag auf h6 zu entgehen, konnte Schwarz 16... a3 17.b3 Sh5 versuchen. 17.Lxh6 Natürlich. 17…
Lxh6 18.Txf6 Lg7 Nach 18... Sg6 19.Txe6 fxe6 20.Sxg6 Dg5 hält Weiß mit 21.Sf5! am Vorteil fest. 19.Dg3
Db6?! Wieder zu optimistisch, denn mittlerweile sind dunkle Wolken über dem schwarzen König aufgezogen. Mit 19... a3 20.Tb1 axb2 konnte man Weiß noch ärgern. 20.Tb1 Kh8 Nun ist guter Rat teuer. Vielleicht war die reumütige Rückkehr 20... Dd8 noch das Beste.
21.Dg5! Weiß hat die Qual der Wahl. Raffiniert war 21.Kf2!, um 22.Th1 folgen zu lassen. Auch 21.Txe6! fxe6 22.Dh3 sieht sehr gewonnen für Weiß aus. 21... Tfe8 Was Schwarz auch immer unternimmt, er wird von der weißen Übermacht überwältigt, z.B. 21... Kg8 22.Txe6! fxe6 23.Dxe7 oder 21… Dc7 22.e5 gefolgt von d4 und der Lc2 erwacht zum Leben.
22.e5! Der Tod kommt auf leisen Sohlen. Auch das prosaische 22.Sef5 Sxf5 23.Sxf5 Lxf5 24.Txf7 gewann. 22... Kg8 Es geht weder 22… dxe5 23.Shf5 Sxf5 24.Sxf5 und der Le6 ist gefesselt, noch 22… a3 23.Txe6! fxe5 24.Dh5+ Kg8 25.d4. 23.Sc4 Lxc4 Befreit den Lc2, denn 23...Dc7 24.exd6 ist keine Option.
24.dxc4 a3 Grimmiger Humor. Nach 24... Sg6 gewinnt sowohl 25.Lxg6 als auch 25.Txg6 und 25.Txf7.
25.Lh7+! Die schönste Lösung. 25... Kxh7 Oder 25… Kh8 26.Txf7 Tg8 (26… Lxe5 27.Dh5) 27.Lxg8 Txg8 28.Dh5+ bzw. 25… Kf8 26.Tbf1 Lxf6 27.Dxf6 Sf5 28.Sg6 matt. 26.Txf7 Th8
Und 1-0 wegen undeckbarem Matt.
Heute beginnt das Schachereignis des Jahres aus österreichischer Sicht: Das 21. Vienna Chess Open 2019 bis 24. August. Täglich mit über 1000 Spieler/innen, darunter 25 Großmeister, im Wiener Rathaus. Zuseher/innen sind willkommen, der Eintritt ist gratis!