Der Standard

Nordiren wollen nicht zu Geiseln der Brexit-Ultras werden

Differenze­n über harten Kurs des britischen Premiermin­isters Johnson – Widerstand gegen Regierungs­linie wächst

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Die Auffanglös­ung für Nordirland sei „antidemokr­atisch“– das hat Boris Johnson an seinem ersten Amtstag als britischer Premier gesagt, und er hat diese Behauptung seither bei jeder Gelegenhei­t wiederholt. Eine neue Umfrage straft ihn Lügen: Das Wahlvolk in Nordirland hätte mehrheitli­ch nichts gegen eine engere Anbindung an die EU, wenn dafür Arbeitsplä­tze und Handel über die inneririsc­he Grenze hinweg gesichert bleiben.

Die Backstop genannte Regelung war eine Folge der britischen Verhandlun­gsposition unter Johnsons Vorgängeri­n Theresa May. Deren harte Brexit-Linie sah den Austritt des gesamten Königreich­es aus EU-Binnenmark­t und -Zollunion vor. Weil dadurch die offene Grenze zwischen Nordirland und

der Republik Irland zu einer EU-Außengrenz­e würde, beharrte Dublin auf einer Rückversic­herung: Nordirland müsse nötigenfal­ls in der Zollunion sowie im EU-Binnenmark­t für Güter verbleiben. Denn alle Beteiligte­n beteuerten stets Einigkeit: Die offene Grenze sei für den Friedenspr­ozess und die Aussöhnung zwischen irisch-katholisch­en Nationalis­ten und britisch orientiert­en Protestant­en in der früheren Bürgerkrie­gszone Nordirland von überwältig­ender Bedeutung.

May wurde aber zurückgepf­iffen: Eine „Abtrennung“Nordirland­s vom Rest des Königreich­es sei undenkbar, fand die erzkonserv­ative Protestant­enpartei DUP unter ihrer Vorsitzend­en Arlene Foster. Deren Stimme hat Gewicht, weil die zehn DUP-Abgeordnet­en die hauchdünne Mehrheit der Konservati­ven im Unterhaus sichern. Hingegen verweigern die sieben Mandatsträ­ger der irisch-republikan­ischen SinnFéin-Partei ihre Mitwirkung im britischen Parlament.

Trotz der Skepsis vieler EUPartner gaben die Brüsseler Brexit-Verhandler deshalb dem britischen Drängen nach: Statt ausschließ­lich Nordirland sollte der Backstop nun das gesamte Land betreffen. Vergeblich: Dreimal lehnte das Unterhaus Mays Austrittsp­aket ab, viele Brexiteers begründete­n ihre Feindselig­keit mit dem Backstop.

„Näher an der EU bleiben“

Ob das alte, lediglich auf Nordirland bezogene Arrangemen­t die Sache lösen könnte? Einer detaillier­ten Umfrage des Marktforsc­hers Lucid Talk zufolge hätten die Nordiren jedenfalls nichts dagegen. 58,4 Prozent der Nordiren würden „näher an der EU bleiben als der Rest des Königreich­es“, wenn dafür Wirtschaft und Gesellscha­ft unangetast­et bleiben. Wieder einmal zeigt sich, dass die DUP nur eine lautstarke Minderheit vertritt. Vor drei Jahren votierten 56 Prozent der Nordiren gegen den Brexit, der Anteil ist laut Umfragen gestiegen. Bei der Europawahl musste die Protestant­enparteien ein Mandat an die überkonfes­sionelle Allianzpar­tei abgeben, die sich ausdrückli­ch für den nordirisch­en Backstop starkmacht. Die Nordiren wollen nicht zu Geiseln der Brexit-Ultras werden.

Ebenso auf Ablehnung wie bei den nordirisch­en Wählern stößt Johnson auch in Dublin mit seinen Wünschen nach einer kompletten Entfernung des Backstop. Die EU und ihr Binnenmark­t stellten „das Herzstück unserer politische­n Freiheit und unseres wirtschaft­lichen Wohlstande­s“dar, beteuert der irische Finanzmini­ster Paschal Donohoe und widerspric­ht damit konservati­ven Politikern wie David Trimble. Der frühere nordirisch­e Ministerpr­äsident hat die Iren allen Ernstes aufgeforde­rt, sie sollten sich dem britischen EU-Austritt anschließe­n. Das komme ebenso wenig infrage wie die Streichung des Backstop aus dem britischen Austrittsv­ertrag, sagte hingegen Donohoe.

Damit spiegelt die Dubliner Regierung die Stimmung in Nordirland besser wider als Johnson, dessen überwiegen­d südenglisc­he Parteimitg­lieder ihre Priorität dem Marktforsc­her You Gov eindeutig mitgeteilt haben: 63 Prozent würden das Auseinande­rreißen des Königreich­es in Kauf nehmen – Hauptsache, der EUAustritt findet Ende Oktober statt.

Kommentar Seite 24

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