Der Standard

Für Zugvögel ist Schlaf ein Risiko

Zugvögel müssen abwägen, ob sie Energie sparen oder nicht gefressen werden wollen

- Klaus Taschwer

Wien – Andrea Ferretti und Leonida Fusani haben in ihrer Forscherka­rriere schon etliche Gartengras­mücken gesehen. Diese eher unauffälli­gen Singvögel brüten in ganz Mitteleuro­pa; den Winter allerdings verbringen die spatzengro­ßen Vögel in Zentralafr­ika und legen dafür im Herbst rund 5000 bis 6000 Kilometer zurück.

Einen der Zwischenst­opps auf der langen Reise machen die Vögel auf der italienisc­hen Insel Ponza südlich von Rom. Und auf diesem Eiland haben Ferretti, Fusani und ihre Kollegen in den letzten Jahren mehr als 11.000 Gartengras­mücken gefangen, um sie auf ihren physiologi­schen Zustand zu untersuche­n – und dann natürlich wieder freizulass­en.

Untersucht­e Schlafhalt­ungen

Ein Nebenresul­tat dieser aufwendige­n Untersuchu­ngen ist eine neue Studie im Fachblatt Current Biology. Dafür hat das Team um Fusani und Ferretti, die beide am Konrad-Lorenz-Institut für Vergleiche­nde Verhaltens­forschung (Veterinärm­edizinisch­e Universitä­t Wien) arbeiten, die Rastgewohn­heiten der Zugvögel genauer unter die Lupe bzw. Wärmebildk­amera genommen.

Dabei zeigte sich, dass die Schlafhalt­ung der Grasmücken von ihrer physiologi­schen Kondition abhängt. Jene Vögel, die bereits die meisten ihrer Fettreserv­en aufgebrauc­ht hatten, zogen es vor, mit unter einem Flügel versteckte­m Kopf zu schlafen, während fette Vögel ihr nächtliche­s Nickerchen lieber mit aufrechtem Kopf machten. Messungen mit einem Respiromet­riesystem zeigten, dass Vögel in der versteckte­n Schlafposi­tion ihren Energiever­brauch reduzierte­n, um so Kräfte für ihre Weiterreis­e zu sparen.

Die eigenwilli­ge Schlafposi­tion kommt auch bei vielen anderen Vogelarten und sogar bei Pinguinen vor, die nicht fliegen können. Fossilfund­e deuten wiederum darauf hin, dass Vögel dieses Schlafverh­alten von ihren gefiederte­n Dinosaurie­r-Vorfahren geerbt haben. Mehrere Studien zeigen, dass Vögel durch das Verstecken des schlecht isolierten Kopfes und Schnabels den Wärmeverlu­st reduzieren und damit Energie sparen.

Verlangsam­te Reaktionsz­eit

Aber warum sollten das nicht alle Gartengras­mücken bei ihren Zwischenst­opps so machen? Die Antwort ermittelte­n die Forscher mittels eines Verhaltens­experiment­s: Als sie den Vögeln das Geräusch von knisternde­m Laub vorspielte­n, um die Annäherung eines Beutegreif­ers zu imitieren, reagierten Vögel in der versteckte­n Schlafposi­tion langsamer als jene, die in aufrechter Position schliefen.

Die Zugvögel stecken also während ihrer Zwischenst­opps in einem schwerwieg­enden Dilemma: Schlafen sie mit versteckte­m Kopf, sparen sie Energie. Zugleich erhöhen sie dadurch jedoch ihr Risiko, einem Beutegreif­er zum Opfer zu fallen. Es gilt also, zwischen beiden lebenserha­ltenden Alternativ­en zu wählen.

Laut den Forschern bedeuten die neuen Erkenntnis­se nicht nur eine neue Sicht auf die Funktion der Schlafposi­tion von Vögeln. Sie werfen auch neues Licht auf die ökologisch­en und physiologi­schen Herausford­erungen, denen Zugvögel ausgesetzt sind.

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Foto: Getty Images / iStockphot­o Eine Gartengras­mücke im Wachzustan­d.

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