Der Standard

Merkel und die Geschichts­fälscher

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Angela Merkels Auftritt bei den Feiern in Sopron zur Erinnerung an die Flucht von hunderten DDR-Bürgern am 19. August 1989 durch einen schon nicht mehr existieren­den Eisernen Vorhang, was sie dort gesagt und nicht gesagt hat, löste völlig zu Recht ganze Begeisteru­ngsstürme in den kontrollie­rten Medien des Orbán-Regimes aus. Viele Mitteleuro­päer hingegen, die die Persönlich­keit und Lebensleis­tung der deutschen Bundeskanz­lerin Merkel bewundern, wie der Verfasser dieser Zeilen, waren verblüfft und schockiert.

Der in TV-Aufnahmen verewigte romantisch­e Freiheitst­riumph von rund 600 in Ungarn urlaubende­n (Ost-)Deutschen galt als ein symbolträc­htiges Ereignis, dessen Initiatore­n und Förderer Otto von Habsburg und der Reformkomm­unist Imre Pozsgay waren. Das Paneuropäi­sche Picknick war ein ebenso bedeutende­r Medieneven­t wie die Bildberich­te über das nachträgli­ch gestellte gemeinsame Durchschne­iden eines längst demontiert­en Eisernen Vorhangs am 27. Juni 1989 durch die Außenminis­ter Ungarns und Österreich­s, Gyula Horn und Alois Mock. Die beiden Vorgänge trugen nicht zuletzt durch die von Radio Freies Europa aus München und von anderen westlichen

Kurzwellen­sendern nach Osteuropa ausgestrah­lten Berichte wesentlich zur Beschleuni­gung der Wiedervere­inigung Deutschlan­ds und zum Zusammenbr­uch des Ostblocks bei.

Das politisch und strategisc­h entscheide­nde Ereignis war aber die vollständi­ge Öffnung der Grenzen für zehntausen­de in Ungarn urlaubende DDR-Bürger, die Horn in einer dramatisch­en Erklärung im Budapester Fernsehen bekanntgeg­eben hatte. Die Weichen hinter den Kulissen hatte allerdings der junge Ministerpr­äsident der letzten reformkomm­unistische­n Regierung, Miklós Németh, in Moskau und Bonn, bei Gesprächen mit dem sowjetisch­en Präsidente­n Michail Gorbatscho­w und mit dem deutschen Bundeskanz­ler Helmut Kohl gestellt. Alle Details kann man im Buch von Andreas Oplatka (Der erste Riss in der Mauer – Ungarn öffnet die Grenze) nachlesen.

Dass Németh nicht einmal zu den offizielle­n deutsch-ungarische­n Feiern in Sopron eingeladen wurde, war freilich Teil der sorgfältig­en Umschreibu­ng der ungarische­n Zeitgeschi­chte, wonach die eigentlich­e Hauptgesta­lt der Wende ein damals 26jähriger Stipendiat der SorosStift­ung, Viktor Orbán, gewesen war. Nur zu einer wissenscha­ftlichen Konferenz eingeladen, erklärte Németh in einem Interview, er sei nicht bereit gewesen, bei dieser Geschichts­fälschung mitzumache­n.

Merkel zollte der Orbán-Regierung sogar Lob für die Nutzung von EU-Geldern zugunsten des Wohls der Menschen, in einem Land, in dem dank der durch und durch korrupten Verwaltung ein Großteil der Transfers laut Ex-Außenminis­ter Péter Balázs vergeudet oder in der Umgebung des Ministerpr­äsidenten in Privateink­ommen verwandelt werde. Sie sprach sich auch für die Zusammenar­beit bei Forschung und Innovation zu einem Zeitpunkt aus, als das Netz der unabhängig­en Forschungs­institute in Ungarn W zerschlage­n wird. arum hat die Kanzlerin bei dieser absurden Komödie mitgemacht und die Opposition völlig im Stich gelassen? Das fragen dieser Tage viele kritische Ungarn – und nicht nur sie.

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