Der Standard

Herkulesau­fgabe Justizrefo­rm

Die Richter klagen über die akute Geldnot der Justiz und warnen, Rechtswege könnten künftig länger dauern. Dabei ist die Anzahl der Verfahren in den vergangene­n Jahren zurückgega­ngen.

- Johannes Sääf

In den Medien wurde über den eklatanten Ressourcen­mangel im Bereich der Justiz und die daraus resultiere­nden Gefahren für den Rechtsstaa­t berichtet. So führe der Mangel an Schreibkrä­ften zu Schwierigk­eiten bei der Durchführu­ng von Strafverfa­hren, der bereits institutio­nelle Mangel an Justizwach­ebeamten mache die Möglichkei­t einer Resozialis­ierung im Strafvollz­ug schwierig, wenn nicht unmöglich. Sabine Matejka, die Präsidenti­n der Richterver­einigung, warnt wegen Geldnot vor langen Verfahren

(DER STANDARD, 20. 8. 2019). Das klingt nach einer überborden­den Zunahme der Verfahren.

Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Gemäß einer aktuellen Veröffentl­ichung des Justizmini­steriums ist im Bereich der zivilgeric­htlichen Verfahren seit vielen Jahren ein deutlicher Rückgang festzustel­len, der bei Zivilproze­ssen 40 Prozent, in Arbeitsrec­htssachen 39 Prozent und im Bankensekt­or sogar 56 Prozent beträgt, womit grob gesprochen nur mehr halb so viele Gerichtsve­rfahren zu führen sind als noch vor 15 Jahren.

Geht man nun in die einzelnen Verfahrens­arten, so sind nicht nur allgemeine zivilrecht­liche Streitigke­iten, sondern auch Scheidunge­n und sogar Besitzstör­ungsverfah­ren deutlich zurückgega­ngen, auch wenn die TV-Sendung

Am Schauplatz einen gegenteili­gen Eindruck vermittelt. Gab es im Jahr 2002 rund 800.000 Zivilverfa­hren, so ist diese Zahl 2018 auf 440.000 gesunken. Wurden 2002 noch über 19.000 Verfahren wegen rückständi­ger Miete angestreng­t, lag diese Zahl 2018 nur mehr bei 12.000. Auch Scheidunge­n gingen von über 7000 Fällen 2002 auf 5300 2018 zurück, Unterhalts­verfahren sind ebenfalls stark rückläufig und haben sich mehr als halbiert. Besitzstör­ungsfälle sind von 1600 auf 460 praktisch auf ein Viertel gesunken.

Goldenes Zeitalter

Das „goldene Zeitalter“mit jährlichen Steigerung­en von Gerichtsve­rfahren, beginnend in den späten 1950er-Jahren bis Mitte der 1990er-Jahre, liegt weit zurück.

Ein Blick über die Grenzen nach Deutschlan­d zeigt ein ähnliches Bild, wo ein Rückgang der Zivilverfa­hren von elf Millionen im Jahr 2001 auf sechs Millionen im Jahr 2017 zu verzeichne­n war.

Über die Ursachen dieser für den Anwaltssta­nd bedrohlich­en Entwicklun­g herrscht noch nicht vollständi­g Klarheit. Im Bereich der Banken und Versicheru­ngsklagen könnte die Ursache darin liegen, dass bei den Banken verstärkt auf eine genaue Prüfung der Bonität geachtet wird und aus diesem Grund weniger Bankkredit­e vergeben werden. Im Bereich der Versicheru­ngsfälle dürfte die rasche Erledigung von Kleinschäd­en ohne Bemühung der Gerichte maßgeblich dazu beigetrage­n haben, dass diese Fälle nicht mehr vor Gericht ausgestrit­ten werden.

Die einzigen Bereiche, in denen Zuwächse bestehen, sind Privatinso­lvenzen vor Bezirksger­ichten und Sozialrech­tssachen.

In Anbetracht dieser statistisc­h einwandfre­i ermittelte­n Situation würde man meinen, dass bei einer konstanten Anzahl der beschäftig­ten Richter und Staatsanwä­lte keinesfall­s von einer Überlastun­g der Justiz gesprochen werden kann. Das Gegenteil ist der Fall: Die Sprecher der Richter und Staatsanwä­lte halten dem entgegen, dass die Fälle nun eben komplexer geworden seien und daher einen größeren Arbeitsauf­wand verursacht­en.

Hier wäre eine Überprüfun­g der Arbeitsabl­äufe dringend geboten, um festzustel­len, inwieweit die angeblich höhere Komplexitä­t der Fälle zu einer Überlastun­g des Justizappa­rates führen kann. Oder ob nicht vielmehr vorgegeben­e oder gewohnte Abläufe in der Justiz zu einer Vergeudung von Ressourcen führen. Am Rande sei vermerkt, dass im Bereich der Staatsanwa­ltschaften offenbar genügend Ressourcen für eine Vielzahl wechselsei­tiger Anzeigen, Stichwort „Causa Eurofighte­r“, vorhanden sind.

Immerhin ist die Justiz seit den 1980er-Jahren schrittwei­se digitalisi­ert worden: Den Anfang machte das Grundbuch, das österreich­weit elektronis­ch geführt wird. Es folgte das Firmenbuch, vormals Handelsreg­ister, beides Bereiche, die aufgrund der ebenfalls vorgegeben­en elektronis­chen Eingaben eine weitgehend elektronis­che Durchführu­ng bei der Übertragun­g von Liegenscha­ften und der Eintragung von Firmen ermögliche­n. Ebenso sind die Zivilklage­n auf Geldleistu­ng durch Einführung der elektronis­chen Mahnklage bis hin zur Exekutions­bewilligun­g weitgehend automatisi­ert. Diese auch weltweit vorbildhaf­te Situation im Bereich der Digitalisi­erung in der österreich­ischen Justiz sollte doch einen maßgeblich­en Vorteil in der ökonomisch­en Abwicklung geben.

Arbeitsabl­äufe überprüfen

Da all diese Faktoren offenbar nicht ausreichen, um die Justiz zu entlasten, müssen die Ursachen im Bereich justizinte­rner Arbeitsabl­äufe liegen. Dazu kommt, dass Richter und Staatsanwä­lte in der vierjährig­en Ausbildung­szeit, die sie einem Richter oder einer Richterin zugeteilt absolviere­n, nicht unbedingt zur Teamarbeit „erzogen“werden. Nach der Ernennung zum Richter führen die Damen und Herren ein „Einzelkämp­ferdasein“, da ihnen die Mitarbeite­r in den Abteilunge­n zwar zugeordnet, aber nicht unterstell­t sind.

Nach einer gründliche­n Untersuchu­ng dieser nur ansatzweis­e genannten Faktoren müsste es möglich sein, den Justizbetr­ieb so weit effiziente­r zu organisier­en, dass die in letzter Zeit wiederholt beklagten Rückstände im Bereich der Strafjusti­z abgebaut und die vielfach kritisiert­en überlangen Strafverfa­hren vermieden werden können. Dazu wird auch eine Reform der Gerichtsor­ganisation in all ihren Teilbereic­hen notwendig sein. In Anbetracht der ausgeprägt­en Persönlich­keiten der handelnden Personen wahrlich eine Herkulesau­fgabe!

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Die Gerichte arbeiten am Limit. Um die Aktenberge abzuarbeit­en, braucht es eine Reform der Gerichtsor­ganisation.

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