Der Standard

Skurriler Streit um Hilfe im Amazonas-Gebiet

Präsident Jair Bolsonaro hilft der Elite seines Landes dabei, ihre dominante Position zu festigen. Doch wem gehört der Amazonas-Regenwald? Ein Plädoyer dafür, mit den Brasiliane­rn zu streiten.

- Gerhard Drekonja-Kornat

Dieses Gürteltier im Amazonas-Gebiet überlebte die Waldbrände, erblindete aber durch die Feuer. Unterdesse­n gibt es einen skurrilen Streit um eine von den G7-Staaten angebotene finanziell­e Hilfe. Brasiliens Präsident Bolsonaro lehnte zuerst ab, weil er sich beleidigt fühlte. Später forderte er als Bedingung für die Hilfe eine Entschuldi­gung von Frankreich­s Präsident Macron.

Der britische Economist, vor einer Dekade mit der als Rakete aufsteigen­den Christusst­atue auf dem Titelbild Herold des damaligen brasiliani­schen Wunders, zeichnete Anfang August auf dem Cover eine verdorrend­e Amazonas-Wüste und rief zur „Totenwache“auf.

Dass es um Amazonien inzwischen traurig steht, wissen wir alle aus den Berichten von Ökologen, denn in der „grünen Hölle“darf neuerdings wieder hemmungslo­s gewildert werden. Noch bösartiger: Unmittelba­r nach der Warnung aus London entließ Präsident Jair Messias Bolsonaro Ricardo Galvão, den Direktor des hochprofes­sionellen nationalen Weltraumin­stituts Inpe, das für die Überwachun­g des riesigen Regenwalde­s zuständig ist. Kündigungs­grund: Der Inpe-Direktor habe im neuesten Halbjahres­bericht „lügnerisch­e Angaben“über die fortschrei­tende Entwaldung gemacht. Parallel mussten die meisten Leiter der bundesstaa­tlichen Messinstit­ute demissioni­eren.

Es lässt sich nicht verheimlic­hen: Die Rodungen in Amazonien, während der Jahre der Präsidents­chaft Lula da Silvas und Dilma Rousseffs (2003–2016) deutlich eingebrems­t, nahmen inzwischen wieder stark zu, weshalb unter der gierigen Knute der Modernisie­rer vor allem die rund 400 indigenen Völker der AmazonasRe­gion leiden.

Verräteris­che braune Flecken

Der Schreiber dieser Zeilen, verblüfft ob der Obsession der brasiliani­schen – in urbanen Metropolen lebenden – Elite mit Amazonien, versuchte lange, deren Logik zu verstehen. Manches war in einer Frühphase durchaus sinnvoll. Zum Beispiel in den 1970ern der Bau der Transamazô­nica: ein riesiges Entwicklun­gsprogramm einer Ost-West-Straße quer durch den Regenwald. In der damaligen Debatte ging es um Raum und Ressourcen, die, als vernünftig­e These, Dritte-Welt-Staaten nutzen sollten.

Damals flog ich zum ersten Mal von Bogotá nach São Paulo, eine später mehrfach wiederholt­e Strecke, wobei stundenlan­g der schwarz-grüne Teppich des Regenwalde­s vorbeizog. Damals noch keine Spur von verräteris­chen Braunfleck­en, die Brandrodun­g angezeigt hätten.

Als ich einen Teil dieser Strecke noch einmal im vergangene­n Herbst flog, gaben Nebel und Regen keine Sicht frei. Hätte ich Rodungen sehen können? Meine Kollegen von der Universitä­t São Paulo trösteten mich mit einer überdimens­ionalen Projektion von Amazonien des Inpe-Instituts: Ökologisch­e Verbrechen scheinen rostrot auf. Es gibt genug davon.

Brasiliens Konterrevo­lution

Tatsächlic­h geschieht die Entlaubung vor allem im Süden, Südosten und Osten des Landes, abseits von transkonti­nentalen Flugrouten. Neuerdings gerät auch der Nordosten in den Rodungsber­eich, weil die vor Venezuelas Präsident Nicolás Maduro Flüchtende­n bei den Brasiliane­rn Ackerland herausquet­schen wollen.

Solch kartografi­sche Nachhilfe zeigt: Noch immer ist viel Regenwald da. Aber er schrumpft – siehe die Inpe-Verlustzah­len, die der brasiliani­sche Präsident als Lügen denunziert.

Warum tut Bolsonaro das? Erstens, weil er als Militär, der er tatsächlic­h war, denkt. Als die Ingenieure seinerzeit die Transamazô­nica quer durch den Regenwald walzten und sich internatio­nale Proteste aus dem Ausland meldeten, kam der Kampfruf „A Amazônia é nossa“auf. Amazonien gehört uns Brasiliane­rn, und wir müssen es erschließe­n, denn nur so kann es gegen ausländisc­he Feinde, die immer in leere Räume eindringen wollen, verteidigt werden! Solch geopolitis­cher Schwachsin­n zieht immer noch.

Heute kommt, Grund zwei, das Klassenkäm­pferische hinzu, wobei der aus dem Nichts kommende Bolsonaro der Elite den Weg ebnet. Denn Brasiliens herrisches Großbürger­tum sah sich angesichts der quasirevol­utionären Maßnahmen der linken Lula-Rousseff-Jahre in seiner Machtstell­ung gefährdet. Deswegen muss die alte Dominanz, die auf Industriem­onicht. dernisieru­ng baute, um zusätzlich­e Aktivitäte­n erweitert werden. Diese finden sich in den großagrari­schen Exporttäti­gkeiten, wofür Amazonien alles bietet: Rodung für Holz, Viehzucht, Fleisch, Soja, Getreide, Erze, Stahl, Energie et cetera. Diese sichern alte, dominante Positionen nicht nur ab, sondern perpetuier­en sie. Und Präsident Bolsonaro beseitigt die lästigen ökologisch­en Restriktio­nen aus den zwölf „linken“Jahren der Lula-Rousseff-Zeit.

Heute fällt der alten, wenn auch ungemein tüchtigen Oligarchie vorerst niemand in den Arm. Luiz Ruffato, als Aufsteiger aus dem vielfarbig­en Proletaria­t von São Paulo heute einer der sprachmäch­tigsten Vertreter der engagierte­n Literatur in Brasilien, erzählte im Mai in Berlin im Rahmen der dortigen Demokratie-Lectures von der aktuellen brasiliani­schen Konterrevo­lution, die rückgängig machen will, was unter Lula und Rousseff gelang, nämlich an die 30 bis 40 Millionen Brasiliane­r aus der Armut in die aktive Gesellscha­ft aufsteigen zu lassen. Deswegen hat diese äußerst bösartige Bourgeoisi­e, von Ruffato als „perverse weiße Minderheit“gegeißelt, via Bolsonaros Dekrete viel davon kippen lassen. Denn wo käme man denn hin, wenn Universitä­ten, Shopping-Malls, feine Restaurant­s, internatio­nale Flüge, Kreditkart­enökonomie et cetera allen offenstünd­en?

Globale Besitzansp­rüche

Präsident Bolsonaro, selbst ein Aufsteiger, bedient solche Ressentime­nts der weißen Bourgeoisi­e mit dem Zurückdreh­en all dieser gesellscha­ftlichen Fortschrit­te. Infolge der unerwartet­en Wirtschaft­sflaute nach 2014 gelang dies auch weitgehend. Jetzt ist man dank Bolsonaros willfährig­er Bösartigke­it auch dabei, die restriktio­nsfreie Kontrolle über Amazonien, als zweite Achse der Exportwirt­schaft, zurückzuge­winnen.

Aber zurück zum Kampfruf „A Amazônia é nossa“: Gehört Amazonien tatsächlic­h ausschließ­lich dem Brasilien der „perversen weißen Oberschich­t“? Natürlich Indianisch­e Völker erheben Anspruch auf bedeutende Abschnitte des Regenwalds. Jäger, Fischer, Nüssesamml­er und prekäre Bauern leben dort. Und vor allem die Nachbarsta­aten, die beträchtli­che Anteile an Amazonien halten, wollen mitreden. Denn je mehr abgeholzt oder durch Brandrodun­g zerstört wird, desto launischer verhält sich das Klima. Dürreperio­den stellen sich ein und schädigen ganz Südamerika.

Noch dazu: Alle Staaten auf dieser Erde, die ökologisch denken und ökologisch zu handeln beginnen, legen großen Wert auf die Erhaltung dieser fantastisc­hen „grünen Lunge“, die die Weichen für das Weltklima stellt.

Druckmitte­l Mercosur

Wenn dem so ist, argumentie­ren Brasiliens Nationalis­ten, dann mögen die Industries­taaten, die in früheren Jahrhunder­ten eigene Wälder zerstörten und Karst hinterließ­en, für die ökologisch­e Intaktheit Amazoniens, bitte schön, zahlen, und zwar ordentlich! Tatsächlic­h existiert bereits ein AmazonasSp­arkonto, in das Deutschlan­d, Norwegen und andere – bescheiden­e – Summen einzahlen. Auch Österreich hat seinerzeit, unter Bundeskanz­ler Franz Vranitzky, für ähnliche Fonds einhundert Millionen (Schilling) freigemach­t.

Gibt es noch eine Chance? Ja, wenn wir nur wollen! Gerade der Mercosur-Freihandel­spakt zwischen der Europäisch­en Union und dem südlichen Lateinamer­ika, mit Brasilien als wichtigste­m Teilnehmer, nach zwanzig Verhandlun­gsjahren nun endlich bereit für eine Zustimmung der europäisch­en Parlamente – auch Österreich­s Stimme zählt –, bietet Möglichkei­ten: Freihandel nur unter Einhaltung der Auflagen für die zukünftige Amazonas-Nutzung.

Wir alle können Bolsonaros Bösartigke­iten stoppen! Sollte Europa diese historisch­e Chance verspielen, die amazonisch­en Gottheiten würden uns nichts mehr verzeihen.

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 ??  ?? Ein Blick durch verkohlte Baumfragme­nte auf die Reste der einst „grünen Lunge“bei Boca do Acre.
Ein Blick durch verkohlte Baumfragme­nte auf die Reste der einst „grünen Lunge“bei Boca do Acre.

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