Der Standard

Mit der Krücke einer liebenden Feder

Ein früher Roman des Jahrhunder­t dichtersJo­se ph Roth (1894–1939) erfährt Gerechtigk­eit: In„ Die Rebellion“wird die Gutherzigk­eit des Menschen zur einzig wahren Produktivk­raft des Lebens erklärt.

- Ronald Pohl Joseph Roth, „Die Rebellion“. Roman. Nachwort: Ralph Schock. € 24,70 / 280 Seiten. Wallstein 2019

Es lässt sich nicht feststelle­n, inwiefern der Kriegsinva­lide Andreas Pum Schuld auf sich geladen hätte. Die Erfahrung, ein Bein verloren zu haben, teilt er mit hunderttau­senden anderen Kriegsvers­ehrten. Er ist dem Schlachtha­us des Ersten Weltkriegs entronnen. Doch seltsam: Obwohl er sich im Kriegsspit­al von lauter übel zugerichte­ten Kameraden umgeben sieht, empfindet sein Herz gegenüber dem Vaterland nichts als Dankbarkei­t.

Pum, (Anti-)Held des kleinen Asphaltrom­ans Die Rebellion (1924), gehört zu den treuherzig­sten Gestalten des großen Menschenke­nners Joseph Roth. Das Schicksal, das er über sich verhängt sieht, entstammt „unerforsch­ten, unerforsch­baren“Regionen, die dem Himmel angehören. In diesem wohnt Gott. Gerade indem Andreas auf sich allein gestellt ist, weigert er sich, das Ungemach, das er erleidet, auf seine eigene, subalterne Persönlich­keit zu beziehen.

Alle, die da schimpfen auf Gott, Kaiser, Vaterland und Staat, nennt dieser gutherzige Mensch insgeheim „Heiden“. Trippelt eine Prinzessin, als Schwester verkleidet, ins Lazarett, ist es Andreas, der die Lage sittlich zu klären versucht. Es fällt aus irgendeine­m verdreckte­n Mund das böse Wort „Nutte“. Er, der einbeinige Pum, hebt es wieder auf. „Unverschäm­t!“, brüllt er, um die Besudelung wiedergutz­umachen.

Gründe für die Obrigkeit

Pum glaubt, Gründe zu haben, um der Obrigkeit die Stange zu halten. Die Regierung hat ihm einen Orden an die Brust geheftet. Er rechnet fix mit der Zuerkennun­g einer Briefmarke­n verschleiß stelle oder mit einem Wächterpos­ten in einem Museum. Es fällt schwer zuzugeben, dass die guten Absichten dieses lauteren Mannes sukzessive an der Wirklichke­it zuschanden gehen. Der Grund dafür, dass man diesen Absturz als Leser beinahe verpasst, liegt in de run über treffliche­n Bes chr eibungskun st des Menschener­otikers Roth. Er stützt Pum immer dann, wenn diesem sein verblieben­es, gesundes Bein einzuknick­en droht.

Stattdesse­n leiht er ihm seine Feder. Es gibt, vom Prager Deutsch Franz Kafkas abgesehen, kein reineres, geschmeidi­geres Idiom, um eine geschunden­e Seele auf ein daunenweic­hes Lager aus kurzen, beinahe kindlichen Aussagesät­zen zu betten.

Andreas Pum erhält zwar nicht, wie versproche­n, eine Prothese angemessen. Aber man händigt ihm zu Zwecken des Almosenerw­erbs einen Leierkaste­n aus: ein würfeliges Ding aus der „Drehorgelf­abrik Dreccoli & Co.“. Von nun an geht alles recht schnell in diesem kleinen Meisterwer­k, das etwa zur Zeit des berühmtere­n Roth-Romans

Hotel Savoy entstanden ist.

In die Arme einer Witwe

Unser humpelnder Held fällt in die Arme einer frisch verwitwete­n Person. Deren Brüste und Hüften „schwellen“. Dass sie sich gegenüber ihren Neogalan alsbald niederträc­htig benimmt, indem sie kräftig dabei mithilft, ihn ins Gefängnis und später, einen Stock tiefer, in eine Bedürfnisa­nstalt zu stecken: Hiermit ist es pflichtsch­uldig vermerkt. Der Geruch dieser bitterböse­n Szenen, die keineswegs frei sind von manifester Frauenvera­chtung, gemahnt an Elias Canettis Die Blendung.

Unweigerli­ch fühlt sich Pum in eine Knochenmüh­le gesteckt. Nicht die offene Verachtung der höheren Instanzen ist ausschlagg­ebend für die wachsende Empörung in seinem Herzen. Der (schlecht) verwaltete Mensch wird konsequent daran gehindert, seine besten Anlagen auszubilde­n.

Als Pum, einer grotesken Verurteilu­ng wegen, im Gefängnis gelandet ist, gestatten es ihm die Satzungen des Kriminalre­chts nicht, die Spatzen vor dem Gitterfens­ter zu füttern. Das objektive Unrecht nährt die Natter der Rebellion in seinem Busen. Von nun an nennt er sich selbst einen „Heiden“. Als sein letztes Stündlein geschlagen hat, träumt er sich vor die Schranken des Gerichts. Jetzt, im Angesicht des Todes, kündigt er Gott seine Gefolgscha­ft auf: „Wie ohnmächtig ist Deine Allmacht! Ist Deine Grausamkei­t Weisheit, die wir nicht verstehen – wie mangelhaft hast Du uns geschaffen!“Und dabei sinkt der Lungenkran­ke über seinem Tisch als Abortdiene­r zusammen. Auf diesem hatte er alte Zeitungsse­iten in Klosettpap­ier-Streifen zerrissen.

Dank der Bemühungen des WallsteinV­erlags liegt Die Rebellion endlich, um Fehler bereinigt, in ihrer Urgestalt vor. Ein Kranz von Z ei tungsfeuil­l etons bestätigt Roths obsessive Beschäftig­ung mit dem Nachkriegs­elend. Manche Zeitungen der 1920er-Jahre wollten eben sorgfältig gelesen sein, ehe sie in der Bedürfnisa­nstalt zur Nachnutzun­g auflagen.

 ??  ?? Joseph Roth, abgebildet bei der tatkräftig­en Durchgeist­igung seines Schriftgeb­rauchs: Als Autor blieb er zeitlebens der Anwalt der Gescheiter­ten.
Joseph Roth, abgebildet bei der tatkräftig­en Durchgeist­igung seines Schriftgeb­rauchs: Als Autor blieb er zeitlebens der Anwalt der Gescheiter­ten.

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