Mit der Krücke einer liebenden Feder
Ein früher Roman des Jahrhundert dichtersJose ph Roth (1894–1939) erfährt Gerechtigkeit: In„ Die Rebellion“wird die Gutherzigkeit des Menschen zur einzig wahren Produktivkraft des Lebens erklärt.
Es lässt sich nicht feststellen, inwiefern der Kriegsinvalide Andreas Pum Schuld auf sich geladen hätte. Die Erfahrung, ein Bein verloren zu haben, teilt er mit hunderttausenden anderen Kriegsversehrten. Er ist dem Schlachthaus des Ersten Weltkriegs entronnen. Doch seltsam: Obwohl er sich im Kriegsspital von lauter übel zugerichteten Kameraden umgeben sieht, empfindet sein Herz gegenüber dem Vaterland nichts als Dankbarkeit.
Pum, (Anti-)Held des kleinen Asphaltromans Die Rebellion (1924), gehört zu den treuherzigsten Gestalten des großen Menschenkenners Joseph Roth. Das Schicksal, das er über sich verhängt sieht, entstammt „unerforschten, unerforschbaren“Regionen, die dem Himmel angehören. In diesem wohnt Gott. Gerade indem Andreas auf sich allein gestellt ist, weigert er sich, das Ungemach, das er erleidet, auf seine eigene, subalterne Persönlichkeit zu beziehen.
Alle, die da schimpfen auf Gott, Kaiser, Vaterland und Staat, nennt dieser gutherzige Mensch insgeheim „Heiden“. Trippelt eine Prinzessin, als Schwester verkleidet, ins Lazarett, ist es Andreas, der die Lage sittlich zu klären versucht. Es fällt aus irgendeinem verdreckten Mund das böse Wort „Nutte“. Er, der einbeinige Pum, hebt es wieder auf. „Unverschämt!“, brüllt er, um die Besudelung wiedergutzumachen.
Gründe für die Obrigkeit
Pum glaubt, Gründe zu haben, um der Obrigkeit die Stange zu halten. Die Regierung hat ihm einen Orden an die Brust geheftet. Er rechnet fix mit der Zuerkennung einer Briefmarken verschleiß stelle oder mit einem Wächterposten in einem Museum. Es fällt schwer zuzugeben, dass die guten Absichten dieses lauteren Mannes sukzessive an der Wirklichkeit zuschanden gehen. Der Grund dafür, dass man diesen Absturz als Leser beinahe verpasst, liegt in de run über trefflichen Bes chr eibungskun st des Menschenerotikers Roth. Er stützt Pum immer dann, wenn diesem sein verbliebenes, gesundes Bein einzuknicken droht.
Stattdessen leiht er ihm seine Feder. Es gibt, vom Prager Deutsch Franz Kafkas abgesehen, kein reineres, geschmeidigeres Idiom, um eine geschundene Seele auf ein daunenweiches Lager aus kurzen, beinahe kindlichen Aussagesätzen zu betten.
Andreas Pum erhält zwar nicht, wie versprochen, eine Prothese angemessen. Aber man händigt ihm zu Zwecken des Almosenerwerbs einen Leierkasten aus: ein würfeliges Ding aus der „Drehorgelfabrik Dreccoli & Co.“. Von nun an geht alles recht schnell in diesem kleinen Meisterwerk, das etwa zur Zeit des berühmteren Roth-Romans
Hotel Savoy entstanden ist.
In die Arme einer Witwe
Unser humpelnder Held fällt in die Arme einer frisch verwitweten Person. Deren Brüste und Hüften „schwellen“. Dass sie sich gegenüber ihren Neogalan alsbald niederträchtig benimmt, indem sie kräftig dabei mithilft, ihn ins Gefängnis und später, einen Stock tiefer, in eine Bedürfnisanstalt zu stecken: Hiermit ist es pflichtschuldig vermerkt. Der Geruch dieser bitterbösen Szenen, die keineswegs frei sind von manifester Frauenverachtung, gemahnt an Elias Canettis Die Blendung.
Unweigerlich fühlt sich Pum in eine Knochenmühle gesteckt. Nicht die offene Verachtung der höheren Instanzen ist ausschlaggebend für die wachsende Empörung in seinem Herzen. Der (schlecht) verwaltete Mensch wird konsequent daran gehindert, seine besten Anlagen auszubilden.
Als Pum, einer grotesken Verurteilung wegen, im Gefängnis gelandet ist, gestatten es ihm die Satzungen des Kriminalrechts nicht, die Spatzen vor dem Gitterfenster zu füttern. Das objektive Unrecht nährt die Natter der Rebellion in seinem Busen. Von nun an nennt er sich selbst einen „Heiden“. Als sein letztes Stündlein geschlagen hat, träumt er sich vor die Schranken des Gerichts. Jetzt, im Angesicht des Todes, kündigt er Gott seine Gefolgschaft auf: „Wie ohnmächtig ist Deine Allmacht! Ist Deine Grausamkeit Weisheit, die wir nicht verstehen – wie mangelhaft hast Du uns geschaffen!“Und dabei sinkt der Lungenkranke über seinem Tisch als Abortdiener zusammen. Auf diesem hatte er alte Zeitungsseiten in Klosettpapier-Streifen zerrissen.
Dank der Bemühungen des WallsteinVerlags liegt Die Rebellion endlich, um Fehler bereinigt, in ihrer Urgestalt vor. Ein Kranz von Z ei tungsfeuill etons bestätigt Roths obsessive Beschäftigung mit dem Nachkriegselend. Manche Zeitungen der 1920er-Jahre wollten eben sorgfältig gelesen sein, ehe sie in der Bedürfnisanstalt zur Nachnutzung auflagen.