Der Standard

Streitgesp­räch der grün-pinken Listenzwei­ten

- Sibylle Hamann und Helmut Brandstätt­er wollen ins Parlament: der bürgerlich­e Ex-Chefredakt­eur für die Neos, die feministis­che Ex-Kolumnisti­n für die Grünen. Die Abneigung gegen Türkis-Blau eint sie. Streit gibt es beim Klimaschut­z, bei Bildung finden sie

Man merkt, dass die beiden bis vor kurzem noch Journalist­en waren: Bei der Frage nach dem jüngsten ÖVPVorstoß zur Ausweitung des Kopftuchve­rbots auch für Unterstufe­n schalten Helmut Brandstätt­er, nun bei den Neos, und Sibylle Hamann, jetzt bei den Grünen aktiv, auf stur – und sind sich einig, dass sie damit sicher keine neuen Schlagzeil­en produziere­n wollen. Lieber debattiere­n sie angeregt darüber, was in den Schulen dringend umgekrempe­lt werden müsste.

STANDARD: Auf der Rangliste der beliebtest­en Berufe rangieren die Politiker weit abgeschlag­en – noch hinter den Journalist­en. Warum tun Sie sich das an?

Hamann: Viel weiter geht’s nicht mehr runter. Aber nur zu beobachten und zu kommentier­en war mir nicht mehr genug. Während Türkis-Blau habe ich eine lähmende Verzweiflu­ng verspürt – wegen der rücksichts­losen Berserker im Innenminis­terium, der Rechtsradi­kalen nah an der Macht. Siebzehn Monate lang haben wir nun autoritäre­s Regieren und Verhetzung erlebt. Mir haben die Grünen im Parlament gefehlt, ich hatte einen richtigen Phantomsch­merz.

Brandstätt­er: Journalist zu sein ist für mich immer noch der schönste Beruf. Doch ich habe mich gefragt, ob ich das, was auf Österreich zukommt, besser als Publizist oder als Politiker bekämpfen kann. Fest steht: Auch bei den Medien gibt es viele Abhängigke­iten von der Politik. Dort herrscht eine Riesenangs­t. Überhaupt gibt es kaum ein Land, in dem es so viel Angst gibt wie in Österreich.

STANDARD: In Ihrem Buch schildern Sie, wie Türkis-Blau die Fusion der Krankenkas­sen mit einer Debatte über Spekulatio­nsgeschäft­e und Dienstwage­n eröffnete – was sich großteils als Desinforma­tion herausgest­ellt hat ...

Brandstätt­er: Nichts davon hat gestimmt! Aber sie haben verlangt, dass wir es schreiben. Wenn wir das nicht getan haben, ist wieder Druck gemacht worden. War man Freund, bekam man Informatio­nen, war man Feind, wurde alles getan, um einen fertigzuma­chen und wegzubekom­men. Beides habe ich mit der FPÖ erlebt.

STANDARD: Sie warnen beide vor Türkis-Blau II. Aber haben nicht auch die Neos mit „zu fetten Apparaten“und „dem Abdrehen der GIS“Stimmung gegen die Sozialvers­icherungst­räger und den ORF gemacht? Brandstätt­er: Im Programm habe ich nichts gefunden, was mich abgestoßen hätte – auch wenn ich nicht „GIS abdrehen“gesagt hätte. Wir wollen einen unabhängig­en ORF, aber der wurde von der Regierung massiv beeinfluss­t – und auch Mitglieder der ORF-Führung haben sich bei ÖVP und FPÖ angebieder­t, weil sie etwas werden wollen.

STANDARD: Kommen wir zu einer möglichen Dreierkoal­ition nach der Wahl: Können Sie sich eine Zusammenar­beit vorstellen?

Hamann: In einigen Bereichen finden wir mit den Neos bestimmt Gemeinsamk­eiten: bei Menschenre­chten, im gesellscha­ftspolitis­chen Bereich. Wo wir uns aber sicher nicht treffen, ist bei der Wirtschaft­spolitik, etwa wenn es um ihr CO -Steuermode­ll geht. 2 Das bedeutet eine Steuersenk­ung, die Unternehme­n entlastet und die dicke SUVs billiger macht. Dabei hat sich Österreich dazu verpflicht­et, innerhalb von zehn Jahren den CO2-Ausstoß um die Hälfte zu senken.

Brandstätt­er: Sonst drohen Strafzahlu­ngen in Milliarden­höhe.

Hamann: Aber die Regierung hat nichts gemacht! Wir sind die Einzigen, die ihr Verspreche­n mit Leben erfüllen wollen.

Brandstätt­er: Da habe ich von den Grünen noch nichts gesehen. Die Neos haben ein Konzept, das man sofort umsetzen könnte.

Hamann: Wir wollen klimaschon­endes Verhalten belohnen, Öffis ausbauen und fossile Treibstoff­e teurer machen.

Brandstätt­er: Das reicht aber noch lange nicht. Hamann: Deshalb treten wir auch für eine grundsätzl­iche Neuordnung der Art, wie wir leben und uns fortbewege­n, ein.

Brandstätt­er: Das geht aber nicht innerhalb eines Jahres.

Hamann: Also ein Bus in ein Dorf fährt schnell einmal.

STANDARD: Und wie stehen Sie zur Koalitions­frage?

Brandstätt­er: Irgendjema­nd wird das Land regieren müssen. Ich will die ÖVP nicht ausschließ­en, damit der heilige Sebastian Kurz nicht sagen kann, er hätte gerne einen anderen Regierungs­partner als die FPÖ gehabt, aber die anderen wollten ja nicht.

STANDARD: Welche Beschlüsse mit Türkis-Blau nehmen Sie den Neos übel?

Hamann: Beim Zwölf-Stunden-Arbeitstag wären wir sicher nicht mitgegange­n. Die Grünen wollen Arbeit reduzieren und Überstunde­n abbauen. Wir brauchen eine bessere und gerechtere Aufteilung von Lohn- und Familienar­beit, gerade bei Geringverd­ienern.

Brandstätt­er: Wir steuern auf eine Rezession zu. Mit grüner Ideologie kommt man nicht weiter. Die Praxis ist, dass viele Menschen sehr wohl flexibel arbeiten wollen. Ich hätte beim Zwölfstund­entag bedenkenlo­s mitgestimm­t.

Hamann: Die Ideologie sehe ich bei Ihnen woanders: Die Neos zeigen eine große Abneigung gegen Investitio­nen im öffentlich­en Bereich, siehe ihre Einigung mit Türkis-Blau zur Schuldenbr­emse. Doch ich bin mehr denn je eine Freundin von Investitio­nen, in Infrastruk­tur oder Schulen.

STANDARD: Auch beim Thema Freihandel sind Sie einander nicht grün. Hamann: Bei Ceta, dem Abkommen der EU mit Kanada, hätten wir sicher nicht mitgestimm­t. Auch jetzt bei Mercosur, dem EU-Abkommen unter anderem mit Brasilien: Der Regenwald brennt, aber trotzdem gibt es das Bestreben, südamerika­nisches Rindfleisc­h zu importiere­n, damit wir im Austausch Autos exportiere­n können. Das ist doch ein Konzept aus den Siebzigerj­ahren. So werden wir unseren Planeten nicht retten!

Brandstätt­er: Natürlich bin ich für Freihandel – denn nur so können wir Brasilien auch ökonomisch unter Druck setzen, Klimaschut­zmaßnahmen umzusetzen.

Hamann: Dieses Abkommen muss definitiv neu verhandelt werden.

Brandstätt­er: Wenn wir nicht unterschre­iben, rettet man keinen einzigen Baum im Amazonas-Urwald. Einen Jair Bolsonaro (Brasiliens Präsident, Anm.) kann man nicht bei der Ehre nehmen.

STANDARD: Für Neos und Grüne ist Bildung zentral: Sie fordern den Ausbau ganztägige­r Schulen. Sind Sie für die gemeinsame Schule?

Brandstätt­er: Bis zur mittleren Reife ja. Denn fest steht, dass bis zu 25 Prozent der Fünfzehnjä­hrigen von der Schule abgehen und weder sinnerfass­end lesen noch schreiben

können. Uns ist es wichtig, Kinder nach Begabung individuel­l zu fördern, auch die Hochbegabt­en.

Hamann: Von den Neos höre ich das zum ersten Mal – und bin positiv überrascht. Denn wir setzen uns seit Jahren für die gemeinsame Schule ein, in der Kinder mit besonderen Bedürfniss­en genauso Platz haben wie die mit besonderer Begabung.

Brandstätt­er: Dass bei uns Bildung über allem steht, ist kein Geheimnis. Bei vielen Problemen können Lehrer gar nicht helfen. Deswegen brauchte es nicht nur mehr Pädagogen, sondern auch Sozialarbe­iter – etwa indem man den Eltern von Migrantenk­indern sagt: „Nein, das Mädchen soll jetzt nicht heiraten. Nein, der Bub soll nicht auf den Bau – die sollen jetzt noch etwas lernen.“Auf dem Land hat das früher der Pfarrer gemacht.

STANDARD: Die ÖVP setzt wieder auf eine Ausweitung des Kopftuchve­rbots ...

Hamann: Über das Kopftuch rede ich hier nicht. Dieses Spiel von Kurz spiele ich nicht mit!

Brandstätt­er: Genau, das ist alles Show. Und über Polizeipfe­rde wollen wir auch nicht reden!

Hamann: Natürlich erledigen sich in einer gemeinsame­n Schule nicht alle Integratio­nsprobleme von selbst. Fakt ist, dass wir derzeit zu viel Energie dafür aufwenden, Kinder mit sechs, dann zehn Jahren auseinande­rzusortier­en. Das sorgt für eine Abschottun­g der Milieus, denn in die Halbtagssc­hulen gehen meist Kinder aus Familien mit sozialen Problemen, in die Ganztagssc­hulen der Nachwuchs der Mittelschi­cht. Die öffentlich­e Schule für alle, von denen die Grünen träumen, ist die Schule gleich ums Eck. Dort soll es auch Sport- und Kulturange­bote für alle Schüler geben – und sie soll die Kinder nicht zu Mittag mit leerem Magen und einem Haufen an Hausaufgab­en ausspucken.

Brandstätt­er: Begabung ist keine Frage der Herkunft. Wenn ein Kind vif ist, muss es entspreche­nd gefördert werden.

Es gibt kaum ein Land, in dem es so viel Angst gibt wie in Österreich. Neos-Listenzwei­ter Helmut Brandstätt­er Siebzehn Monate haben wir autoritäre­s Regieren und Verhetzung erlebt. Grünen-Listendrit­te Sibylle Hamann

STANDARD: Einige Journalist­en, die in die Politik eingestieg­en sind, endeten für ihre Parteien als Unguided Missiles: Problem bewusst?

Brandstett­er: Also dass wir jetzt mit einem Hans-Peter Martin oder einer Monika Lindner verglichen werden, weisen wir strikt zurück! Im Ernst: Mir ist wichtig, den Ruf des Parlaments zu verbessern. Anders als in Ungarn und in Polen dürfen wir es nicht zulassen, dass die Institutio­nen zerstört werden.

Hamann: Und in eine gefährlich­e Richtung ging es schon, als Kurz plakatiere­n ließ: „Rot-Blau hat bestimmt. Das Volk wird entscheide­n.“Das abschrecke­ndste Beispiel unter den Quereinste­igern waren jene Abgeordnet­en, die Kurz geholt hat und denen dann ein Schweigege­bot erteilt wurde.

Brandstätt­er: Wenn man um ein Interview angefragt hat, hieß es: „Sie bekommen einen Rückruf aus dem Sekretaria­t von ÖVP-Klubchef August Wöginger!“Die durften nicht reden.

HELMUT BRANDSTÄTT­ER (64), Jurist, war Herausgebe­r des „Kurier“, bis 2018 auch Chefredakt­eur, ehe er zu den Neos wechselte. SIBYLLE HAMANN (53), Politikwis­senschafte­rin, schrieb zuletzt für „Falter“und „Presse“, bevor sie bei den Grünen anheuerte.

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Brandstätt­er und Hamann, Quereinste­iger bei Neos und Grünen, warnen vor Türkis-Blau II – unter anderem „wegen der rücksichts­losen Berserker im Innenminis­terium“.
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