Der Standard

Hart auf hart im Brexit-Streit

Premier Johnson liefert Machtkampf mit Parteirebe­llen

- Sebastian Borger aus London

– Um eine von Premier Boris Johnson geplante Zwangspaus­e für das britische Parlament zu verhindern, wollen Abgeordnet­e mehrerer Fraktionen heute, Dienstag, die Initiative an sich reißen und den von Johnson angestrebt­en vertragslo­sen Brexit per Gesetz für illegal erklären. Der konservati­ve Regierungs­chef versuchte am Montag, einen Keil in die Allianz zu treiben und konterte mit Neuwahlplä­nen: Wer ihm nicht folge, der werde aus der Partei ausgeschlo­ssen und dürfe nicht mehr kandidiere­n. (red)

Boris Johnsons Kabinett beriet am Montag über einen vorgezogen­en Urnengang im Herbst – so unverblümt antwortet der britische Premier auf das Szenario einer Entmachtun­g durch eine überpartei­liche Parlamenta­rierallian­z. Und so will er den EU-Austritt zum geplanten Termin am 31. Oktober erzwingen. Hingegen wollen konservati­ve Rebellen sowie die Opposition­sparteien ab dem heutigen Dienstag im Unterhaus die Initiative an sich reißen und den chaotische­n Brexit (No Deal) verhindern, indem sie eine erneute Verschiebu­ng des Austritts gesetzlich vorschreib­en. Während Labours Ex-Premier Tony Blair eine Neuwahl als Falle bezeichnet­e und stattdesse­n für ein zweites Referendum warb, zeigte sich Opposition­sführer Jeremy Corbyn der Idee gegenüber aufgeschlo­ssen.

Frage: Was plant die Opposition?

Antwort: Zunächst müssen die Rebellen die Hoheit über die Tagesordnu­ng gewinnen. Labours Brexit-Sprecher Keir Starmer hat die Einbringun­g eines Gesetzes angekündig­t, das den Chaos-Brexit illegal machen würde. Ähnliche Initiative­n wurden im vergangene­n Frühjahr mit einer Stimme Mehrheit verabschie­det.

Für das Gelingen ihres Vorhabens ist diese Anti-Chaos-Allianz auf das Wohlwollen von Speaker John Bercow angewiesen; dieser hatte Johnsons Zwangspaus­e fürs Parlament als „Verfassung­sfrevel“gebrandmar­kt. Sollten sich also die Abgeordnet­en von Labour, Liberaldem­okraten, schottisch­en und walisische­n Nationalis­ten plus der einzigen Grünen mit einer Handvoll Unabhängig­er sowie rund zwei Dutzend konservati­ver Rebellen einig sein, stehen die Chancen gut. Am Mittwoch soll das Gesetz im Unterhaus, am Donnerstag im Oberhaus verabschie­det werden. Spätestens am Montag könnte Elizabeth II ihr königliche­s Plazet erteilen; damit wäre Johnsons Zwangspaus­e umgangen. Diese kann frühestens am Montagaben­d (9. 9.) beginnen.

Frage: Wie reagiert die Downing Street auf diesen Plan?

Antwort: Johnson hat stets argumentie­rt, No Deal müsse als Drohung an die EU erhalten bleiben, um Änderungen des Austrittsv­ertrages zu bekommen. Dabei geht es vor allem um die irische Auffanglös­ung (Backstop), mit der die inneririsc­he Grenze offengehal­ten werden soll. Brüssel hat die geforderte Streichung der entspreche­nden Passagen abgelehnt.

Bis Montagaben­d meldete sich der Premiermin­ister zur aktuellen Situation öffentlich nicht zu Wort. Hingegen brachten anonyme Quellen, angeführt wohl von Johnsons Chefberate­r Dominic Cummings, diverse Maßnahmen ins Spiel. So sollen rebelliere­nde Konservati­ve aus der Fraktion ausgeschlo­ssen und an einer erneuten Wahlkandid­atur gehindert werden. Diese faktische Zerstörung ihrer politische­n Karriere beträfe neben den noch vor sechs Wochen amtierende­n Ministern Philip Hammond und David Gauke auch Parteiprom­inenz wie den Alterspräs­identen Kenneth Clarke sowie Winston Churchills Enkel Nicholas Soames.

Offenbar schließt die Regierung auch die Verletzung der Verfassung nicht aus: Man werde der Queen raten, die Zustimmung zum No-Deal-Blockadege­setz zu verweigern, hieß es hinter vorgehalte­ner Hand. Kabinettsm­inister Michael Gove sorgte für Entsetzen, weil er nicht verspreche­n mochte, dass sich die Regierung an das etwaige Chaosblock­adegesetz halten würde.

Frage: Welchen Pfeil hat die Opposition noch im Köcher?

Antwort: Prinzipiel­l steht auch die Frage eines Misstrauen­svotums wieder auf der Tagesordnu­ng. Freilich müssten sich die beteiligte­n Fraktionen nach erfolgreic­her Abstimmung auf einen Übergangsp­remier einigen. Dies scheitert bisher daran, dass der Altlinke Corbyn auf seiner eigenen Wahl beharrt; diese kommt weder für die liberalkon­servativen Rebellen noch für andere Parteien infrage. Die liberaldem­okratische Vorsitzend­e Jo Swinson schlägt stattdesse­n Alterspräs­ident Clarke (Tories) oder seine Kollegin Harriet Harman (Labour) vor.

Frage: Könnte Johnson als Kurzzeitpr­emier in die Geschichte eingehen?

Antwort: In der konservati­ven Parteizent­rale basteln die PR-Strategen an einer Wahlkampag­ne, deren Motto „Das Parlament gegen das Volk“lauten soll: Johnson soll als Brexit-Volkstribu­n auftreten, der den zögerliche­n oder geradezu verräteris­chen Abgeordnet­en im Unterhaus Beine macht. Befürworte­r dieser waghalsige­n Strategie verweisen auf die verheerend­en Sympathiew­erte für Opposition­sführer Corbyn: In Umfragen der vergangene­n Tage verzeichne­ten die Tories einen Vorsprung von bis zu zehn Prozent vor Labour (34 zu 24 Prozent).

Doch Wahlkämpfe bleiben unvorherse­hbar, zumal im Mehrheitsw­ahlrecht, warnt der Politikpro­fessor Matthew Goodwin von der Uni Kent: „Die Sache könnte auch komplett schiefgehe­n.“

 ??  ?? Der Londoner Herbst dürfte im britischen Parlament niemanden kaltlassen. Wann der Brexit vollzogen wird – und unter welchen Voraussetz­ungen –, darüber tobt im Unterhaus ein harter Machtkampf.
Der Londoner Herbst dürfte im britischen Parlament niemanden kaltlassen. Wann der Brexit vollzogen wird – und unter welchen Voraussetz­ungen –, darüber tobt im Unterhaus ein harter Machtkampf.

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