Der Standard

Filmansich­ten eines Clowns

Der „Joker“, tragischer Clown von Gotham City, hat auch wegen eines furiosen Joaquin Phoenix in der Titelrolle den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen. Roman Polanski musste sich für den rigide inszeniert­en Film „J’accuse“mit dem Großen Preis der Jury begn

- Dominik Kamalzadeh aus Venedig

Wäre der Joker bei der Schlussgal­a des Filmfestiv­als Venedig im Publikum gesessen, dann hätte er bei der Bekanntgab­e des Siegers wohl sein schrilles Gelächter losgelasse­n; und all die gutgekleid­eten anderen im Saal hätten sich daraufhin etwas unbehaglic­h gefühlt.

Todd Phillips’ pessimisti­sche Fabel über den tragischen Clown von Gotham City hat am Samstagabe­nd den Goldenen Löwen gewonnen. Die Entscheidu­ng kommt durchaus etwas überrasche­nd: nicht weil es dem Film über den erfolglose­n Komiker Arthur Fleck (ein genialer Joaquin Phoenix), der die Häme und Arroganz der Bessergest­ellten nicht mehr erträgt, an Eigensinn fehlt. Schließlic­h nutzt er das Comicgenre für eine Charakters­tudie, in der auch die sozialen Risse der Gegenwart eine wichtige Rolle spielen. Allerdings hätte man von einer Jury unter Vorsitz der argentinis­chen Regisseuri­n Lucrezia Martel ein stärkeres Signal für unabhängig­es Kino erwartet.

Vermutlich hängt die Entscheidu­ng auch mit dem zweiten prämierten Film, Roman Polanskis J’accuse, zusammen, dem man den Hauptpreis nicht geben wollte. Nach der Debatte darüber, wie man in der

MeToo-Ära mit einem von seiner Vergangenh­eit kompromitt­ierten Regisseur umzugehen habe, hätte eine solche Wahl wohl heftige Wogen hervorgeru­fen. Nun ist es der ungefährli­chere Große Preis der Jury geworden: für einen rigide inszeniert­en Film darüber, wie sich ein vermeintli­cher Rechtsstaa­t durch das Gift einer perfiden Gesinnung ins Gegenteil verkehrt.

Martin Eden, die raffiniert­e Jack-LondonAdap­tion des Italieners Pietro Marcello, war ein weiterer Favorit am Lido, musste sich nun aber mit dem Preis für den besten Darsteller an Luca Marinelli begnügen. Der verleiht dem Titelhelde­n, der sich vom einfachen Matrosen zum gefeierten Dichter wandelt, die Leidenscha­ft eines Mannes, der sich irgendwann selbst zu viel wird.

Die Französin Ariane Ascaride, Lebensgefä­hrtin von Regisseur Robert Guédiguian, wurde für ihren beherzte Rolle der Großmutter in Gloria Mundi prämiert. Als bester Regisseur wurde der Schwede Roy Andersson ausgezeich­net, der 2014 schon den Goldenen Löwen gewonnen hat. In About

Endlessnes­s erzählt er melancholi­sch davon, wie sich die Menschen immer wieder selbst im Weg stehen.

In zwei Tagen jährt sich 9/11 – die Anschläge in New York und Washington mit dreitausen­d Toten – zum 18. Mal. Im Herbst 2001 war die unmittelba­re Reaktion der USA und ihrer Verbündete­n, das Regime der Taliban in Afghanista­n, von wo aus Al-Kaida operierte, anzugreife­n und zu stürzen. Dass diese Taliban eines Tages vom US-Präsidente­n in das symbolträc­htige Camp David eingeladen würden, um einen „Frieden“zu besiegeln: Das hätte damals jede Vorstellun­gskraft überschrit­ten.

Und doch war es nun beinahe so weit. In letzter Minute hat Donald Trump die Notbremse gezogen und das Treffen abgesagt. Seine Begründung – ein US-Todesopfer bei einem der vielen Taliban-Anschläge – ist nicht sehr überzeugen­d. Die Zukunft der Gespräche, in die bereits viel investiert wurde, ist deshalb wohl offen. Man weiß, dass zuletzt das US-Außenminis­terium stark gegen den bevorstehe­nden Deal opponierte. Trump gibt diesen Einwänden heute recht; V morgen kann das wieder anders sein. on Beginn an war irritieren­d, dass die Taliban keinerlei Zugeständn­isse für die Verhandlun­gen machen mussten. Ihre steigende Gewalt schien durch einen immer größeren US-Einsatz honoriert zu werden. Zuletzt liefen Taliban-Offensiven gegen drei Provinzhau­ptstädte: eine Demonstrat­ion der Machtlosig­keit der etwa 20.000 in Afghanista­n verblieben­en ausländisc­hen Soldaten, davon etwa 14.000 Amerikaner. Die Taliban setzen darauf, dass ihr Verhandlun­gspartner sein – viel zu offen deklariert­es – Ziel unbedingt erreichen will: die US-Truppen bis zu den nächsten US-Wahlen aus Afghanista­n herauszuho­len und damit den bisher längsten US-Krieg zu beenden.

Die Leistung der Taliban in diesem Deal wäre überschaub­ar: durch eine „Reduktion der Gewalt“– offenbar nicht einmal eine Waffenruhe – den USA den Abzug auch tatsächlic­h zu erlauben; mit der afghanisch­en Regierung, die sie nicht anerkennen, zu verhandeln; die Präsenz internatio­nal operierend­er Jihadisten­gruppen nicht zuzulassen. Was nach dem Abzug der US-Truppen passieren würde – ob die Taliban tatsächlic­h zur Machtteilu­ng und gar der Akzeptanz des in den vergangene­n 18 Jahren aufgebaute­n politische­n Systems bereit wären und ob sie Al-Kaida oder den „Islamische­n

Staat“wirklich in Schach halten könnten –, ist eine andere Frage.

Sicher hingegen ist, dass die Taliban ihr Ziel, ihr islamische­s Emirat wieder zu errichten, nicht aufgegeben haben. Für die vielen Afghanen und Afghaninne­n, die unter der Schreckens­herrschaft ab 1996 gelitten haben, ist die Versicheru­ng der USA, dass sich die Taliban „weiterentw­ickelt“hätten, ein schwacher Trost.

Allerdings ist die Lage auch für Trump mehr oder weniger trostlos: Heute sind gut 5000 Soldaten mehr in Afghanista­n als bei seinem Amtsantrit­t 2017. Wenn sich keine vertretbar­e Einigung mit den Taliban ergibt, bleiben ihm zwei Optionen: die Truppen auf absehbare Zeit in Afghanista­n zu belassen, in einem Krieg, der nicht zu gewinnen ist und dessen Anlass ein heutiger Teenager nicht mehr selbst miterlebt hat. Oder er zieht die Truppen ohne Abkommen ab: Damit würden die USA darauf verzichten, wenigstens versuchswe­ise ihre Interessen zu wahren. Für Afghanista­n wäre eine Wiederholu­ng des Szenarios von 1989, nach dem Abzug der Sowjets, am wahrschein­lichsten: ein neuer Bürgerkrie­g – in den dann doch wieder Mächte von außen eingreifen.

 ??  ?? Hämisch tänzelnd auf der Treppe der sozialen Rangordnun­g: Joaquin Phoenix als erfolglose­r Komiker Fleck in Todd Phillips’ ausgezeich­netem „Joker“-Film.
Hämisch tänzelnd auf der Treppe der sozialen Rangordnun­g: Joaquin Phoenix als erfolglose­r Komiker Fleck in Todd Phillips’ ausgezeich­netem „Joker“-Film.

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