Der Standard

„Reden kann Leben retten“

Stefan Lange wollte sich das Leben nehmen. Die zufällige Begegnung mit einer langjährig­en Freundin wird zum Rettungsan­ker. Heute spricht er offen über sein Schicksal und engagiert sich in der Suizidpräv­ention.

- INTERVIEW: Claudia Minner

STANDARD: Vor rund 25 Jahren wollten Sie sterben und haben eine Überdosis Medikament­e genommen. Was war der Auslöser für diesen Schritt?

Lange: Weil eine vermeintli­ch große Liebe gescheiter­t ist. Ich war 29, hatte gerade mein Studium abgeschlos­sen, der Trennungss­chmerz war nicht auszuhalte­n. Ich war mir sicher, dass mein Leben niemals wieder lebenswert sein würde.

STANDARD: In Ihrer Youtube-Serie „Komm, lieber Tod“erzählen Sie, dass Sie schon als kleiner Junge sterben wollten.

Lange: Ich wurde von meinem Vater missachtet und häufig verprügelt. Meine Mutter hat nichts dazu gesagt. Ich fühlte mich total wertlos. Abends im Bett habe ich mir oft gewünscht, dass ich einschlafe und nie wieder aufwache. Dieser Gedanke war für mich tröstlich. Als Teenager und junger Erwachsene­r habe ich viel Alkohol getrunken, um meinen Schmerz zu betäuben. Nach außen war ich fröhlich, aber ich habe oft daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen.

STANDARD: Die gescheiter­te Liebe war also nur der Trigger für Ihren Suizidvers­uch?

Lange: Richtig. Suizidalit­ät entsteht nicht von jetzt auf gleich. Es gibt einen langen Weg dorthin. Wenn man jahrelang glaubt, wertlos zu sein, fühlt sich auch das Leben wertlos an. Und dann ist man schneller bereit, es zu beenden.

STANDARD: Wie haben Sie überlebt?

Lange: Wie durch ein Wunder, ich hatte viele Tabletten geschluckt. Als ich wieder aufwachte, war ich noch völlig benebelt. Ich sah eine Ecke, eine Linie und wieder eine Ecke. Komisch, dachte ich, ist das der Himmel? Dann sah ich eine grüne Stahltür. Irgendwann begriff ich, dass ich mich in einer Gefängnisz­elle befand. Später erzählte mir die Polizei, ich sei noch Auto gefahren, hätte dabei mehrere parkende Autos und einen Vorgarten demoliert, bis ich im Straßengra­ben gelandet bin. Ich kann mich an nichts mehr erinnern.

STANDARD: Wie ging es weiter?

Lange: Ich rutschte völlig ab, nahm weiterhin Tabletten und schließlic­h starke Betäubungs­mittel. Das Medikament machte mich total lethargisc­h, alles war mir egal, ich hörte auf zu denken. Ich lag stundenlan­g auf meinem Bett in meinem WG-Zimmer, starrte an die Decke, fühlte mich und meine Trauer nicht mehr. So ging das wochenlang. Ich war wie lebendig tot.

STANDARD: Hat denn niemand etwas gemerkt?

Lange: Nein, meine WG-Mitbewohne­r waren selten da, und den Kontakt zu anderen Freunden hatte ich vorher schon einschlafe­n lassen. Wenn ich zufällig jemanden traf, täuschte ich vor, dass es mir gutging. Genau genommen war ich total verwahrlos­t. Ich lebte mittlerwei­le von Sozialhilf­e, in meinem Zimmer türmten sich leere Bierflasch­en und volle Aschenbech­er. Aber mir war alles egal.

STANDARD: Bis Sie Ihre Lebensrett­erin trafen.

Lange: Ja, eine gute Freundin, die ich ein paar Monate nicht gesehen hatte. Ich traf Anja auf der Straße, und sie erkannte gleich, dass etwas nicht stimmte. Wir setzten uns in eine Kneipe, sie stellte viele Fragen, hörte geduldig zu. Anja ließ auch danach nicht locker, meldete sich alle paar Tage oder kam vorbei. Irgendwann meinte sie, „Das Problem ist größer, als ich dachte“, und empfahl mir, eine Therapie zu machen.

STANDARD: Wie haben Sie reagiert?

Lange: Anfangs blockte ich ab. Aber Anja hakte immer wieder nach, und irgendwann war ihre Geduld vorbei. „Du machst jetzt verdammt nochmal eine Therapie. Ich kann dir allein nicht weiterhelf­en!“Da wählte ich dann die Nummer des Therapeute­n. „Wenn Sie so weitermach­en, sind Sie in zwei Monaten entweder tot oder in der Psychiatri­e“, sagte er beim ersten Termin. „Eigentlich müsste ich Sie sofort einweisen!“Das hat mich wachgerütt­elt, ich wollte nicht in die Psychiatri­e. Er meinte, er würde mich nur gehen lassen, wenn ich ihm verspreche, keine Tabletten mehr zu schlucken und bis zum nächsten Termin meine Geschichte aufzuschre­iben.

STANDARD: Und das wirkte?

Lange: Ja, ich habe noch am gleichen Abend mit dem Schreiben begonnen und keine Tabletten mehr genommen. Der kalte Entzug in den nächsten Wochen war sehr heftig. Ich habe gezittert, gefroren, geschwitzt und gekotzt. Aber ich war fest gewillt, das durchzuste­hen. Das Schreiben motivierte mich.

STANDARD: Was hat Sie dazu bewogen, Ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen?

Lange: Durch die vielen Gespräche mit Anja habe ich realisiert, dass ich gar nicht sterben, sondern nur diese schmerzhaf­te Trauer um meine große missglückt­e Liebe loswerden wollte. Heute weiß ich, dass es vielen Menschen so geht, die einen Suizidvers­uch machen. Sie wollen eigentlich nicht ihr Leben, sondern nur einen unerträgli­chen Zustand beenden. Deshalb erzähle ich meine Geschichte. Wenn wir Betroffene­n zeigen, dass es einen Ausweg gibt, ist das die beste Prävention. So kann man Menschen Mut machen und vom Suizid abhalten. Das ist wissenscha­ftlich erwiesen. STANDARD: Sie meinen die Studien des Suizidolog­en Thomas Niederkrot­enthaler von der MedUni Wien? Lange: Genau. Er hat dies als Papageno-Effekt bezeichnet, benannt nach dem Helden in Mozarts Zauberflöt­e, der davon abgehalten wird, sich umzubringe­n.

STANDARD: Im Gegensatz zum Werther-Effekt.

Lange: Das stimmt. Nachdem Goethe das Buch Die Leiden des

jungen Werther veröffentl­icht hatte, nahm die Anzahl der Suizidvers­uche und Suizide merklich zu. Mittlerwei­le weiß man aber, dass es auf die Art der Darstellun­g ankommt. Wird der Suizid oder Suizidvers­uch in den Medien verherrlic­ht und als Lösung dargestell­t, begünstigt dies Nachahmert­aten. Wenn die Berichte hingegen zurückhalt­end sind und aufzeigen, wie Krisen überwunden werden können, welche Hilfsangeb­ote es gibt oder wie jemand nach einem gescheiter­ten Suizidvers­uch zurück ins Leben findet, sinkt die Suizidrate. Deshalb lautet mein Motto: Reden kann Leben retten.

STANDARD: Was raten Sie Menschen, die an Suizid denken?

Lange: Suizidgeda­nken kommen und gehen, trotzdem sollte man sie ernst nehmen und mit jemanden darüber sprechen. Nicht alle können mit dem Thema umgehen, aber es gibt viele gute Angebote für Suizidgefä­hrdete (siehe Wissen).

Je eher man diese annimmt, desto einfacher wird es, einen Ausweg zu finden, weg von den selbstzers­törerische­n Gedanken.

STANDARD: Wann haben Sie gelernt, Ihr Leben wieder zu schätzen?

Lange: Das hat einige Jahre gedauert. Ich hatte viele Therapiest­unden, Gespräche und Erkenntnis­se hinter mir, als mir erstmals bewusst wurde, wie dankbar ich bin, überlebt zu haben. Es gibt immer noch depressive Phasen in meinem Leben, aber ich habe gelernt, andere um Hilfe zu bitten. Außerdem habe ich eine tolle Partnerin und mit der Suizidpräv­ention eine sehr erfüllende Aufgabe.

STANDARD: Sie beschreibe­n Ihren eigenen Weg mit den Worten „vom Selbstmörd­er zum Lebensrett­er“. Was macht Sie so sicher, dass Sie tatsächlic­h Leben retten?

Lange: Das positive Feedback auf meine Youtube-Serie und Lesungen, bislang sind es über 500 EMails. Viele Betroffene schreiben mir, dass mein Bericht ihnen die Augen geöffnet, sie getröstet und vom Suizid abgehalten hat. Das macht mich sehr glücklich. Denn das ist für mich die Bestätigun­g, dass mein Überleben einen Sinn hat.

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Der 10. September ist Welttag der Suizidpräv­ention. Er soll für das Tabuthema sensibilis­ieren und Betroffene­n zeigen, dass es in jeder schweren Krise Auswege und Hilfe gibt.

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