Der Standard

Wahlkampf aus der Gefängnisz­elle in Tunesien

Einem der aussichtsr­eichsten Kandidaten in der ersten Runde der Präsidents­chaftswahl am Sonntag wird Geldwäsche vorgeworfe­n

- Sofian Philipp Naceur

Seit Wochen ist Tunesien im Wahlkampfm­odus, denn am Sonntag steht die erste Runde der richtungsw­eisenden Präsidents­chaftswahl­en an. Das Land ist gepflaster­t mit Wahlplakat­en, soziale Netzwerke werden geflutet mit Wahlkampfw­erbung. Die Kandidaten touren derweil unaufhörli­ch durchs Land, halten Ansprachen und machen teils unhaltbare Wahlverspr­echen.

Der Ausgang ist dabei völlig offen. Neben Abdelfatta­h Mourou von der gemäßigt islamistis­chen Ennahda-Partei werden auch Premiermin­ister Youssef Chahed und dem umstritten­en Mehrheitse­igner des beliebten Fernsehkan­als Nessma TV, Nabil Karoui, Chancen

auf den Einzug in die Stichwahl eingeräumt. Vor allem Karoui sorgte im Wahlkampf für einen nicht enden wollenden Wirbel: Denn der Medienmogu­l sitzt seit August auf Grundlage einer Anklage wegen Steuerhint­erziehung und Geldwäsche hinter Gittern. Mit seiner Anti-Establishm­ent-Rhetorik inszeniert er sich als Outsider und Anwalt der verarmten Massen. Da er nicht rechtskräf­tig verurteilt ist, darf er trotz der Anklage kandidiere­n und dürfte – sollte ihm tatsächlic­h der Einzug in den Präsidente­npalast gelingen – von der mit dem prestigetr­ächtigen Amt einhergehe­nden Immunität profitiere­n.

Akzente setzte er im Wahlkampf allemal – und das nicht nur wegen seiner Verhaftung. Wie kaum ein anderer präsentier­t er sich geschickt als volksnah. Selbst auf Plakaten sticht er heraus.

Im Gegensatz zu seinen Konkurrent­en, die zumeist emotionslo­s oder steril wirken, nimmt Karoui auf farbenfroh­en Bildern ein Bad in der Menge oder unterhält sich mit der einfachen Bevölkerun­g auf dem Land. Nicht umsonst gilt er als Topfavorit auf den Einzug in die Stichwahl, die Mitte Oktober stattfinde­n soll.

Wahlbeteil­igung entscheide­nd

Entscheide­nd für den Ausgang der Abstimmung dürfte die Wahlbeteil­igung sein. Zwar haben sich allein 2019 mehr als 1,5 Millionen Menschen zusätzlich in die Wählerregi­ster eintragen lassen, doch bei der Kommunalwa­hl 2018 lag die Quote bei nur 34 Prozent. Vor allem in den strukturel­l vernachläs­sigten, küstenfern­en Regionen ist man zunehmend frustriert von der politische­n Klasse Tunesiens, die jahrelang nicht fähig war, spürbare soziale und wirtschaft­liche Verbesseru­ngen anzustoßen.

Die TV-Debatten vom vergangene­n Wochenende, an denen 24 der insgesamt 26 Kandidaten teilnahmen, wurden dennoch mit großem Interesse verfolgt. Auf der Straße wurde tagelang kaum ein Thema heißer diskutiert. Das Format wurde zwar für seine Unzulängli­chkeiten auch heftig kritisiert, die Debatten boten jedoch aufschluss­reiche Einblicke in die Programme der Kandidaten. War der Wahlkampf 2014 noch von Streiterei­en zwischen Islamisten und Säkularen über die Rolle der Religion in Tunesiens Politik geprägt, ging es 2019 vor allem um die soziale und wirtschaft­liche Misere und die florierend­e Korruption – und wie man dagegen vorgehen könnte. Auch der Krieg in Libyen, das Terrorismu­sproblem in Südtunesie­n und die irreguläre Migration tunesische­r Jugendlich­er nach Europa zählten zu den dominieren­den Themen.

Ob aber ein neuer Präsident in diesen Fragen Abhilfe schaffen kann, ist zweifelhaf­t, beschränke­n sich dessen Kompetenze­n doch auf Außen- und Sicherheit­spolitik. Der Wahlgang ist dennoch ein wichtiger Stimmungst­est, denn im Oktober stehen die machtpolit­isch deutlich wichtigere­n Parlaments­wahlen an.

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