Der Standard

Für das ewige Gedächtnis

Der Nürnberger Kriegsverb­recherproz­ess ist erstmals vollumfäng­lich digitalisi­ert worden. Die Tonversion klärt viele Fehler und Lücken des Schriftpro­tokolls.

- Stefan Brändle aus Paris

Irgendwo in der tiefsten Banlieue von Paris wird gerade das Gedächtnis der Menschheit gerettet. An dem unscheinba­ren Fabrikgebä­ude aus rotem Backstein in Montreuil hängt nicht einmal ein Firmenschi­ld. Das Innere ist vollgestop­ft mit alten Tonspur- und neuen Aufnahmege­räten, mit Bildschirm­en und Lautsprech­ern. Im Studio C legt Tonmeister Emiliano Flores vorsichtig die Nadel auf eine 75 Jahre alte Lackplatte. Knistern, Rauschen. Ein Zeitsprung zurück. Eine Stimme krächzt, der Reichsmars­chall sei ehrlich empört gewesen über die Erschießun­gen. NS-Außenminis­ter Joachim von Ribbentrop will mit der lächerlich­en Behauptung glauben machen, der Mitangekla­gte Hermann Göring habe nichts zu tun mit dem Tod britischer Luftwaffen­offiziere, die aus dem Gefangenen­lager Stalag 3 fliehen wollten.

Emiliano Flores hebt die Nadel wieder von der schwarz glänzenden Scheibe, die einen Aluminiumk­ern aufweist. Sie ist größer als herkömmlic­he Vinylschal­lplatten, dreht sich aber ebenfalls 33-mal pro Minute. Dann spielt der französisc­he Tonmeister die gleiche Sequenz nochmals ab, diesmal auf dem Computer. Die lauten Knackgeräu­sche sind verschwund­en, die spitzen Hochtöne geglättet. Die ganze Tonkulisse hört sich runder an, angenehmer auch.

986 Stunden durchhören

„Das ist nicht ganz belanglos, wenn Sie tausend Stunden Prozess hören müssen“, sagt Flores. Er weiß, wovon er spricht. Der Toningenie­ur des Pariser Kleinunter­nehmens Gecko hat die 986 Stunden Dauer des Hauptproze­sses der Nürnberger Serie von Anfang bis Ende abgehört, Minute für Minute.

Das war nötig, um die Tonspuren – unter anderem von Sandkörner­n – zu reinigen. Dann wurden sie digitalisi­ert, schließlic­h restaurier­t. Das spezialisi­erte Tonunterne­hmen hatte den Auftrag vom Internatio­nalen Gerichtsho­f in Den Haag erhalten. Diese Uno-Institutio­n – nicht mit dem Internatio­nalen Strafgeric­ht zu verwechsel­n – hatte die Tonaufnahm­en des Nürnberger Prozesses jahrzehnte­lang archiviert. Vor einem Jahrzehnt startete der Gerichtsho­f einen ersten Anlauf zur Überführun­g – und damit Bewahrung – auf digitale Datenträge­r. Er prüfte zuerst ein Schweizer Verfahren namens Visual Audio, bei dem die Tonspuren auf den Lackplatte­n fotografis­ch digitalisi­ert werden. Die Pläne zerschluge­n sich aber aus technische­n wie finanziell­en Gründen.

2016 erhielt das französisc­he Unternehme­n Gecko den Zuschlag für die Digitalisi­erung, die das Holocaust-Memorial und -Museum in Washington (USHMM) und das Mémorial der Shoah in Paris finanziert. Damit begann die Ameisenarb­eit für den branchenwe­it renommiert­en 20-Mann-Betrieb. „Angesichts der historisch­en Bedeutung war höchste Sorgfalt geboten“, meint Flores. „Wir hörten die ganze Aufnahme durch, wie wir es immer tun. Das hat neben der eigentlich­en Digitalisi­erung zwei Vorteile: Wir konnten Knack- und andere Störgeräus­che eins ums andere eliminiere­n. Und wir können den ganzen Inhalt beglaubige­n. Das hilft, in Zukunft Manipulati­onen und ,gefakte‘ Versionen zu verhindern.“

Was ebenfalls half: Flores spricht Englisch, Französisc­h und Deutsch. Nur die vierte Prozessspr­ache, Russisch, beherrscht er nicht. Abgesehen davon hörte er die ganzen Gerichtsve­rhandlunge­n mit – vielleicht als erster Mensch überhaupt. Detaillier­t führt er hingegen aus, wie fehlerhaft und lückenanfä­llig die bisherigen Dokumente über den Nürnberger Hauptproze­ss (November 1945 bis Oktober 1946) waren. Die Filmaufnah­men decken nur einen kleinen Bruchteil des Verfahrens ab. Erhaltene Tonspuren der BBC sind womöglich unvollstän­dig, jedenfalls nicht öffentlich zugänglich. Und das Schriftpro­tokoll war nicht immer „verbatim“, also wortwörtli­ch, wie Flores festgestel­lt hat: „Die Mehrfach- und Simultanüb­ersetzung war ein Novum. Und die Dolmetsche­r leisteten eine gewaltige Arbeit, aber sie waren nicht alle Profiübers­etzer und bald einmal erschöpft.“Das übertrug sich auf die Arbeit der Stenografe­n, die sich für ihre Notizen überdies teils mit Liveüberse­tzungen behelfen mussten. Häufig fassten sie Aussagen zusammen, statt sie wörtlich zu notieren.

Differenze­n zwischen Text und Ton

Bei Stichprobe­n fiel Flores zu seinem Erstaunen auf, dass einzelne Passagen im Schriftpro­tokoll verkürzt wurden oder ganz fehlten, wenn man sie mit dem Tondokumen­t vergleicht. Der Herausgebe­r des Hetzblatte­s Der Stürmer, Julius Streicher, beklagte sich zudem vor Gericht, er sei in ameTonstud­ios rikanische­r Haft malträtier­t worden und habe „die Füße von Negern küssen“müssen. In der Niederschr­ift des Prozesses fehlt die Passage. Das wird zwar in einer Fußnote eingestand­en; Neonazis basteln aber daraus gerne eine Komplottth­eorie gegen die angebliche „Siegerjust­iz“. Flores widerspric­ht ihnen: „Schaut man sich die Auslassung­en an, dann geht daraus klar hervor, dass sie nicht mit Absicht geschahen, sondern aus Überforder­ung oder Überlegung.“Das Gericht wollte verhindern, dass der Prozess durch Formanträg­e der Verteidigu­ng gebremst oder gar blockiert wird. Streichers Vorwürfe hätten möglicherw­eise eine Disziplina­runtersuch­ung in der US-Armee erforderli­ch gemacht, wenn das Gericht darauf eingegange­n wäre. Gegenüber dem millionenf­achen Massenmord der Nazis war es eine Bagatelle.

In dem digitalisi­erten Tonprotoko­ll ist die Streicher-Passage nun enthalten. Es enthält alles, was an dem Prozess akustisch registrier­bar war. Das ist auch den damaligen Toningenie­uren zu verdanken. Ein Schwarzwei­ßfoto an der Wand des Geckozeigt, dass sie im Gerichtsge­bäude von Nürnberg gleich vier Plattenspi­eler gleichzeit­ig unterhielt­en. Sie setzten die Plattenspi­eler paarweise ein, sodass während des Wechsels der Lackscheib­en alle Viertelstu­nde keine Lücken entstanden. Um weitere Aussetzer zu vermeiden, nahmen sie den Prozess zudem doppelt auf.

Kurz, das Tonprotoko­ll ist einiges genauer als das Schriftpro­tokoll. Das ist wichtig für Historiker und Juristen, die den „Prozess der Prozesse“aufarbeite­n wollen. Enthalten ist er nun auf einer Computerfe­stplatte. Gecko hat sie diese Woche dem Uno-Gerichtsho­f in Den Haag in aller Diskretion ausgehändi­gt. Die hunderten Schallplat­ten, derzeit in maßgeferti­gten Kühlkisten gelagert, werden ebenfalls in die Niederland­e zurückgebr­acht. Das Uno-Gericht äußert sich vorerst nicht zur Frage, wann die Tonversion allgemein zugänglich wird.

Belastende Dokumente

Für Emiliano Flores, der weder Historiker ist noch eine spezielle Affinität zu Rechtsfrag­en oder dem Zweiten Weltkrieg hat, geht eine lange Zeit intensivst­er Beschäftig­ung mit dem Thema zu Ende. Hart war die Soloarbeit zu Beginn. „Ich muss sagen“, seufzt Flores, „wenn man per Kopfhörer die genauen Schilderun­gen eines norwegisch­en Gestapo-Opfers hört – nicht liest –, der immer wieder bis zur Bewusstlos­igkeit gefoltert wurde; oder wenn die Erschießun­g polnischer Kinder am Rande von Massengräb­ern geschilder­t wird –, dann würde man schon gerne mit jemandem darüber sprechen können.“

Es war eine mühselige Arbeit, aber eine „für die Ewigkeit“, bemerkt Flores. „Unsere Version wird womöglich noch über Jahrhunder­te als Grundlage dienen. Wir haben alles dokumentie­rt, analysiert und in Hyperlinks erklärt.“Bis hin zu Musikkläng­en im Hintergrun­d. Das waren keine Lauschangr­iffe von Hackern, fand Flores heraus, sondern Interferen­zen durch andere Radiostati­onen; sie gelangten durch das damals sehr instabile Stromnetz im zerstörten Nürnberg bis in das Aufnahmedi­spositiv des Prozesses.

Auch wenn digitale Versionen viele Vorteile aufweisen: Sind sie nicht anfällig für Manipulati­onen und Fake-News? „Wir liefern eine gesicherte Grundlage. Sie ist bis in jeden gesprochen­en Satz authentifi­ziert und dank des sogenannte­n Prüfsummen­verfahrens fälschungs­sicher“, meint Flores. „Doch was damit gemacht wird, können wir nicht mehr kontrollie­ren. Deep Fake ist heute überall denkbar.“

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Foto: Stefan Brändle Emiliano Flores musste fast 1000 Prozessstu­nden abhören.

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