Die Schöpferin von „The Handmaid’s Tale“legt eine souveräne Fortsetzung ihrer Dystopie vor.
Aus ihrem vor 34 Jahren erschienenen Roman „Der Report der Magd“wurde die enorm erfolgreiche Serie „The Handmaid’s Tale“. Jetzt legt Margaret Atwood mit „Die Zeuginnen“eine souveräne Fortsetzung nach. Als der Zeitgeist begann, Braun zu tragen – zur „Cabar
Eine Leserin muss Margaret Atwoods Roman Die Zeuginnen ganz besonders glücklich gemacht haben. Glücklicher selbst als die Scharen von Fans, die sich am 9. September spätabends vor Buchhandlungen versammelten, um beim mitternächtlichen Verkaufsstart dabei zu sein. Oder die in einem der über 1000 Kinosäle saßen, in die Atwoods erste Lesung live übertragen wurde – ein Rummel, wie man ihn seit Harry Potter nicht mehr erlebt hat.
Diese spezielle Leserin ist die US-amerikanische Schauspielerin Ann Dowd. In der TV-Serie The Handmaid’s Tale, basierend auf Atwoods Roman Der Report der Magd aus dem Jahr 1985, verkörpert sie die Rolle der „Tante“Lydia. Sie ist es, die im Gottesstaat Gilead, zu dem die USA in naher Zukunft geworden sind, aus Frauen „Mägde“macht. Deren Funktion: sich in einem biblisch-bizarren Ritual vergewaltigen zu lassen, um unfruchtbaren Paaren der Elite Nachwuchs zu liefern.
Das Training für diese jeder Würde beraubten Rolle übernehmen die Tanten, und sie tun es mit einer grauenhaften, jeden Widerstandsgeist
lähmenden Mischung aus Folter und Zuneigung. Das allein machte Lydia bereits zu einer fantastisch ambivalenten Rolle. Doch nun, in der einige Jahre später angesiedelten Fortsetzung Die Zeuginnen, steigt Lydia zur Hauptfigur auf und zeigt ungeahnte neue Facetten. Man könne sie als Legende wie auch als Monster sehen, sinniert sie zu Beginn – und möglicherweise sogar als Heldin. Dowd steht damit eine goldene Zukunft bevor.
Ist es fair, ein Werk der Literatur aus der Perspektive des Franchises zu beurteilen, das daraus entsprungen ist? In diesem Fall muss man es sogar tun, denn gerade hier zeigt sich Atwoods Souveränität. Sie weiß nicht nur, dass sie ein popkulturelles Phänomen geschaffen hat. Sie umarmt es. Zur immens erfolgreichen TVSerie kommt noch eine blühende Fanfiction-Kultur – und beides hat der Autorin als Quelle für Namen und Figuren gedient, die nun in ihrem neuen Roman auftauchen.
Manche Fans mögen enttäuscht darüber sein, dass die Fortsetzung nicht die weiteren Erlebnisse der Magd Desfred aus dem Originalroman schildert. Die kommt nur am Rande vor – und selbst da bleibt eine Restunsicherheit bestehen, ob es sich tatsächlich um sie handelt. Doch damit hat Atwood sich selbst wie auch den Serienmachern Luft verschafft. Elegant vermeidet sie damit das Schicksal George R. R. Martins, von der eigenen TV-Adaption überholt zu werden und etwaige Widersprüche zu produzieren.
Will man Desfred als Widerstandskämpferin erleben, möge man vor dem Bildschirm Platz nehmen – hier richtet sich der Fokus auf andere. Die Frage, wer hinter den titelgebenden Zeuginnen Agnes und Daisy steckt, wird einen twistreichen, wenn auch konventionellen Plot um Geheimmissionen und Tarnidentitäten in Gang setzen, der uns eines in Erinnerung ruft: Bei aller politischen Brisanz will Atwood auch unterhalten – und nicht zuletzt sich selbst. So manche böse Tat wird hier mit einer unverkennbaren Portion Genüsslichkeit geschildert.
Gilead ist realer denn je
Den schwarzen Humor hat Atwood hier freilich etwas sparsamer dosiert als etwa in ihrer Wirtschaftsdystopie Das Herz kommt zuletzt aus dem Jahr 2015. Für mehr wären Gilead und dessen reale Vorbilder denn doch ein zu grimmiges Umfeld. Die Inspiration für den Report der Magd war seinerzeit das Wiederaufleben fundamentalistischer religiöser Strömungen. Seitdem habe sich die Welt noch näher auf Gilead zubewegt, statt sich von ihm zu entfernen, bilanziert Atwood – darum nun die Fortsetzung.
Und doch sind weder Religion noch Patriarchat das, worauf sie eigentlich abzielt. Atwood, die sich mit Labels stets schwertat, sah den Report nicht zwangsläufig als feministisches Werk. Die Zeuginnen macht diese paradox erscheinende Sichtweise noch deutlicher: Männer treten hier nur als Randfiguren auf, dementsprechend richtet sich der Fokus nun ganz auf die Rolle der Frauen – auch als Stützen eines frauenfeindlichen Systems. Angehenden Heldinnen stehen Täterinnen gegenüber. Der Übergang vom Opfer über die Komplizin bis zur aktiven Mitgestalterin des Systems, illustriert am Lebensweg Lydias, erweist sich als fließend.
Es ist das Wesen der Diktatur selbst, unabhängig von seiner konkreten Ausformung, das Atwood beleuchtet – ein System, das es Menschen unmöglich macht, moralische Entscheidungen zu treffen. Möglich ist nur, vielleicht, das Überleben. Und die Rechtfertigung dafür vor der Nachwelt; sinngemäß wird daher auch der berühmt-berüchtigte Satz „Es war nicht alles schlecht“fallen.
Es sind unzumutbare Umstände, die die drei Hauptfiguren vor eine unzumutbare Wahl stellen. Und sie so auf einen Weg bringen, den sie niemals für denkbar gehalten hätten. Mit den Worten Lydias: „Man macht den ersten Schritt, und um sich vor dessen Konsequenzen zu retten, macht man den nächsten. In Zeiten wie unseren gibt es nur zwei Richtungen: aufwärts oder in den Abgrund.“Margaret Atwood,
Die Reise des englischen Schriftstellers Christopher Isherwood (1904–1986) in das Berlin der ausgehenden Zwanzigerjahre glich einer Fahrt in die Unterwelt. Nicht weniger markierte sie aber auch den Übertritt in einen weltexklusiven Glücksbezirk. Dieser schien vollgestopft mit Verheißungen, mit liberalen Lockungen und extravaganten Zerstreuungsangeboten. Das Land, in dem das Musical Cabaret spielt, war nie ganz von dieser Welt: Künstler aus aller Herren Länder hetzen von einem Vergnügungstempel zum nächsten.
Der berüchtigte „Kit Kat Club“ist das verdichtete Modell all der Revuetheater, derentwegen man Berlin für die vitalste, zugleich für die verruchteste Metropole der Roaring Twenties halten konnte. Varieté, Kabarett und die maßlos kitschigen Dekorationen bilden allabendlich die Kulisse für barbusige Damen und sexuell ambivalente Conferenciérs in bunt schillernden Aufzügen.
Cabaret, das heute, Samstag, in der Wiener Volksoper Premiere feiert, entstand als Musical in den 1960ern. Entscheidender als sein kolossaler Bühnenerfolg, der von der Bob-Fosse-Verfilmung (1972) mit Liza Minnelli kaum noch getoppt werden konnte, ist die Beschwörung eines Kippphänomens.
Denn während die Zuseher vor und auf der Bühne noch willkommen geheißen werden, braut sich über den Dächern Berlins und auf seinen Pflasterstränden bereits das Unheil zusammen. Noch ist die braune Machtergreifung nur zu ahnen.
„Willkommen, Bienvenu, Welcome“: Das Gegenstück zu Glanz und Talmi in der Spree-Stadt bilden die Pensionen und Absteigen, in denen auch Cabaret, das Bühnenstück, seine absichtsvolle Ausnüchterung erfährt. Noch genauer als der Bühnentext von Joe Masteroff und Fred Ebb (Musik: John Kander) vermitteln Christopher Isherwoods als Vorlage dienenden Romane Mr. Norris steigt um (1935) und Leb wohl Berlin (1939) einen lebhaften Eindruck von der drohenden Zeitenwende.
Aus- und Abschweifungen
Fast scheint es, als würde der Gedanke der Aus- und Abschweifung noch einmal vorsätzlich auf die Spitze getrieben. Jung-Autor Clifford Bradshaw, Isherwoods Alter Ego, bildet mit der englischen Revuesängerin Sally Bowles ein Paar, ohne dass die beiden bürgerliche Rücksichten üben müssten. Umgekehrt turtelt Cliffords Zimmerwirtin mit einem ihrer Gäste, einem honorigen jüdischen Obsthändler. Die antisemitische Gewalt schießt wie eine Stichflamme empor. Die Zeitstimmung von damals ähnelt in wichtigen Aspekten der angstgetriebenen heutigen. Isherwoods NorrisRoman erzählt z. B. von Exzentrikern, die für die Kommunisten arbeiten und zugleich unfähig sind, sich mit den neu anbrechenden Zeiten zu arrangieren.
In den Berliner Jahren von etwa 1920 bis 1933 konnte man Isherwood an der Seite seines Freundes und Dichterkollegen W. H. Auden begegnen. (Aus Letzterem wurde lange nach dem Zweiten Weltkrieg ein begeisterter Wahlniederösterreicher.) In Eric Charells weltberühmten Revuen begegnete man erstmals den Rhythmen des Jazz – während die Tänzerin La Jana „sehr entblößt auf einem silbernen Tablett in die Menge getragen“wurde. Das Leben schien mit der Kunst für kurze Zeit untrennbar verschmolzen.
Bald schon stoben die Miterfinder der Berliner Moderne in alle Himmelsrichtungen auseinander. Hitler war in der Operettenparodie Quo vadis? von Paul Morgan und Kurt Robitschek dem beißenden Spott der Satire preisgegeben worden. Hitler soll diese Schmähung weder verwunden noch vergessen haben. Die Verfolgung jüdischer Künstler wurde nach der Machtergreifung von ihm mit besonderer Verve betrieben.
19.00 Uhr.