„Verführen auf Zeit – das ist dionysisch!“
Die Musiktheatergruppe Netzzeit zeigt mit Roberto David Rusconis „Dionysos Rising“im Wiener Museumsquartier die Aktualisierung des antiken Mythos mit einem innovativen, in die Seele dringenden Soundsystem.
Mythen“, sagt der Regisseur, Autor, Schauspieler und Netzzeit-Gründer Michael Scheidl, „besitzen eine Energie, beinhalten manchmal auch Lebensentwürfe, die den Menschen keine Ruhe lassen. Wie lässt es sich sonst erklären, dass bei einer Befragung auf der Straße in einem Großteil der westlichen Welt auf die simple Frage, wer Dionysos ist, sehr viele Menschen mehr als 2000 Jahre später zumindest wüssten, dass der irgendwas mit Wein zu tun hat?“
Am Beginn der aktuellen Netzzeit-Produktion standen Gespräche mit dem Komponisten Roberto David Rusconi, und bald war für alle Beteiligten klar, dass sie aus zwei Textquellen schöpfen sollten, zum einen aus dem spätantiken Epos Dionysiaka von Nonnos von Panopolis, zum anderen aus den Essays des Zeitgenossen Roberto Calasso.
Menschen und Halbgötter
„Ein Mythos ist eine Form des imaginativen Denkens, der jedes Mal, wenn er erzählt wird, seine eigene Geschichte, seine eigene Erzählung und Bedeutung neu erschafft. Die Authentizität eines Mythos entwickelt sich jedes Mal von null an, wenn er neu erzählt wird“, fasst Rusconi die gemeinsamen Überlegungen zusammen, bei denen die Kraft der antiken Erzählungen durch den Brennspiegel moderner Erfahrungen geleitet wurde.
„Niemand erhellt den zu allen Zeiten und in allen Kulturen existierenden Einfluss der Menschen auf die Götter, die sie sich schaffen, und den daraus wiederum entstehenden Einfluss dieser Götter auf die Menschen besser als Roberto Calasso“, erläutert Scheidl.
Und weiter: Nonnos „zeigt, dass die dahinterstehende schöpferisch-fantastische Kraft um Lichtjahre größer ist als die der ganzen zeitgenössischen Fantasy-Storys.
Games of Thrones nimmt sich daneben wie ein herziger Dreigroschenroman aus.
Rusconi: „Nonnos hat uns beispielsweise die Erkenntnis geschenkt, dass das Konzept des menschenliebenden, menschheitsrettenden Halbgottes, der dann die Karriere zum unsterblichen Gott macht – inklusive der symbolischen Verbindung von Blut und Wein als Erlösungsmittel –, keineswegs vom Christentum, sondern von der griechischen Antike erfunden wurde. Der erste Repräsentant dieses Erlösungskonzeptes heißt in wesentlichen Teilen Dionysos.“
Musikalisches Theater eignet sich wohl ideal, um solche in der Tiefe der Menschheitsgeschichte verborgenen Beziehungen spürbar zu machen, ohne sie unbedingt theoretisieren zu müssen. „Mythen entspringen einer tiefen Quelle, die nicht vom Bewusstsein erzeugt wird und nicht unter seiner Kontrolle steht“, sagt Rusconi.
Götter, Theater und der Wein
„In der Mythologie früherer Zeiten wurden diese Kräfte Mana oder Geister, Dämonen oder Götter genannt. Sie sind so aktiv wie nie zuvor. Unsere Kultur hat aber den Fluss des Wissens verdammt, sogar das trockene Flussbett zu einer asphaltierten Autobahn gemacht. Der unterirdische Strom ist immer noch präsent und wartet nur darauf, wieder in unsere Mitte einzudringen. Alles, was es braucht, ist eine menschliche Stimme, um es hervorzurufen.“
Denn, so der Komponist weiter: Der Gott des Weins und des Theaters befinde sich heute weitgehend im Exil. „Um unser Zeitalter neu zu definieren, müssen wir Dionysos und alle Götter umarmen. Wir müssen neue Methoden finden, um in die dunkle, chthonische, für immer unzivilisierte Energie der Wildheit, des Todes und der Zerstörung einzutauchen, die neben Liebe und Unschuld im Mittelpunkt jedes Wandlungs- und Erneuerungsprozesses steht.“
Dionysos könne auch gefährlich sein, sagt Scheidl: „Nämlich dann, wenn man ihn negiert. Aber auch sehr bereichernd, wenn man ihn willkommen heißt. Ansonsten kommt es zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst, von dem Platz, an dem er sich befindet, und von der Welt.“
Und so entwirft Dionysos Rising ein „neues Epos für ein neues Jahrhundert mit einer eigenen Sprache und der Kraft der Musik als akustisches Wahrnehmungserlebnis“, skizziert Rusconi: „Musik ist für mich immer eine Reise der Seele, ein Wahrnehmungsakt, bei dem die Musik wie bei Wagner das Drama erschafft und nicht umgekehrt. Ich persönlich wollte etwas schreiben, das ich mir selbst gerne anhören würde, etwas, das es zuvor nicht gab, eine filmische Oper voller Klangbilder und Solisten, die sich bewegen, tanzen, handeln, einen kraftvollen Deus ex Machina!“
Skulptur im Mutterleib
Im Mittelpunkt steht dabei mit L-ISA ein innovatives Soundsystem, das einen hyperrealen Klangraum erschaffen soll: „Dieses System ist der wichtigste Aspekt der gesamten Produktion“, sagt Rusconi: „Der Sound ist einfach wunderbar und beispiellos – eine Skulptur, wie man sie im Mutterleib erleben kann. Dionysos befahl uns, das in Wien anzubieten, aber nicht mit Worten zu beschreiben, weil es gehört und erträumt werden kann!“
Und Michael Scheidl fasst mit einem Satz zusammen, worum es nicht nur in diesem Projekt, sondern in allen Veranstaltungen seines „unkonventionellen Theaters in allen Erscheinungsformen“geht: „Verführen auf Zeit. Und das ist etwas sehr Dionysisches.“ „Dionysos Rising“, österreichische Erstaufführung: Donnerstag, 19. 9., im Wiener Museumsquartier (Halle G). Weitere Aufführungen: 20. und 21. 9.