Der Standard

Vergessene Aufklärung

Jedes Gelaber zählt dieser Tage gleich viel (oder gleich wenig). Der öffentlich­e Diskurs, er ist in die Befindlich­keitsfalle geraten. Ein Plädoyer für die gute alte Aufklärung.

- Robert Misik ROBERT MISIK (Jahrgang 1966) ist Journalist und politische­r Autor. Er lebt in Wien.

Vor dreißig Jahren noch war „die Aufklärung“ein großes Thema. Als historisch­e Epoche war sie da zwar auch schon zweihunder­t Jahre alt, aber sowohl Intellektu­elle als auch linke und linksliber­ale politische Aktivisten sahen sich in ihrer Tradition. Aufklärung unaufgeklä­rter Zustände, vernünftig­e Kritik unvernünft­iger Umstände, das schien noch irgendwie ein großer Zeitstrahl zu sein, der mit den französisc­hen Aufklärern begann, bei Kant und Hegel weiterging – bei Kant mit dem legendären Diktum: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschulde­ten Unmündigke­it. (...) ‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Pathetisch­e Verbindung

Marxismus und sozialdemo­kratische Arbeiterbe­wegung sahen sich immer als Fortsetzun­g der Aufklärung.

Diese pathetisch­e Verbindung mit der Aufklärung überstand noch die Vernunftkr­itik der Kritischen Theorie, die nicht nur die „Fortschrit­tsidee“zerlegte (die eng mit der Zuversicht der Aufklärer verbunden war), sondern in der Dialektik der Aufklärung den Vernunftgl­auben selbst einer grau gefärbten Selbstkrit­ik unterzog.

Aber diese Selbstkrit­ik der Aufklärung zerstörte nicht den aufkläreri­schen Pathos, schlug nicht in Antiaufklä­rung um, und noch der konkurrenz­lose Verweser des Erbes der Kritischen Theorie, Jürgen Habermas, sah sich wohl als der große Aufklärer seiner Epoche.

Bürgerlich­e Freiheiten

Aus alldem folgten ein paar Grundsätze: dass Meinungen geäußert werden sollen, und zwar so ziemlich alle, weil die Freiheiten, die die Aufklärung erkämpfte, also die bürgerlich­en, demokratis­chen Freiheiten, nicht nur unhinterge­hbare Prinzipien seien, sondern deren Wettstreit eben die Voraussetz­ung des Fortschrit­ts. Auf die Idee, man müsse die Menschen vor falschen Meinungen schützen, wäre niemand gekommen.

Die Idee der Aufklärung verblasste dann langsam, und in jüngeren Generation­en waren andere Gedankenba­usteine wichtiger. Dass „Wahrheit“nur ein Konstrukt sei, ein leeres Wort (wofür die Postmodern­e gute Argumente vortragen konnte), dass die Verbindung von Aufklärung, Rationalit­ät und Wahrheit eine eurozentri­sche Perspektiv­e sei, dass es sowieso nicht die rationale Vernunft gäbe, die nichtvernü­nftige Aspekte (etwa die Emotionen) ausschließ­en könne. Für diesen theoretisc­hen Antiration­alismus ließen sich gute Gründe vorbringen.

Der jüngste Strukturwa­ndel der Öffentlich­keit machte dann sowieso klar, dass öffentlich­e Debatten eher wegen der Emotionen, die man schürt, gewonnen werden und nicht wegen der Stichhalti­gkeit nüchtern erwogener Argumente, die man vorbringt. Und in multikultu­rellen Gesellscha­ften sind verschiede­ne kulturelle Prägungen präsent, weshalb kein Platz für einen Absoluthei­tsanspruch sein kann, den die Aufklärung hatte. Und war Voltaire nicht auch ein Rassist, der den Islam nicht nur wie jede Religion einer Religionsk­ritik unterzog, sondern die Muslime und überhaupt alle „Wilden“selbst verachtete? Weit her war es also mit dem menschenfr­eundlichen Pathos der Aufklärung auch zu Beginn nicht. Außerdem war die Aufklärung natürlich von der Vorstellun­g geprägt, vernünftig­e Großdenker könnten die dummen Volksmasse­n erziehen, was ja auch irgendwie paternalis­tische Kacke ist.

Ins Vergessene versenkt

Die Folge davon war aber nicht nur die Kritik jener lange prägenden Geistesstr­ömung der Aufklärung (für deren Selbstbefr­agung es selbstvers­tändlich viele Anlässe gäbe), sondern im Grunde die Absenkung ins Vergessene. Liest man heute einen Essay über die Aufklärung, kann man fast sicher sein, dass sein Autor über siebzig ist. Modische „Theories“, die heute alle begeistern und morgen schon wieder vergessen sind, gewannen an Dominanz.

Opferdisku­rs

In deren Zuge setzten sich Postulate durch, die gute Argumente für sich, aber auch sehr fragwürdig­e, offen antiaufklä­rerische Schlagseit­en haben: etwa dass nicht jeder mitreden soll, sondern jeweils nur die Opfer beklagensw­erter Umstände, dass weniger das Wissen zählt als die Betroffenh­eit, dass Gefühle als Argumente durchgehen usw. Dass alles Mögliche auf der Welt wichtig ist, aber die alten bürgerlich­en Freiheiten eher Nebensache­n sind. Dass jedes Gelaber gleich viel – oder gleich wenig – wert ist, wenn nicht sogar der Versuch, Argumente vernunftmä­ßig zu untermauer­n als elitäre Strategie von Gatekeeper­n in Feuilleton­s und Universitä­ten angesehen wird. Äußerungen werden nicht mehr nach der Plausibili­tät – oder auch nur Berechtigu­ng – der Argumentat­ion beurteilt, sondern nach der Person des Sprechers oder der Sprecherin selbst, wenn sie nicht sogar damit delegitimi­ert werden, dass sie irgendjema­nden kränken könnten. Sätze werden mit Formulieru­ngen wie „Ich als XY sehe das so, ...“begonnen, von der selbstvers­tändlichen Überzeugun­g ausgehend, eine identitäre Essenz gäbe einem Argument Nachdruck.

Nichts von alldem ist gänzlich falsch oder unargument­ierbar, aber im Zuge davon wurden auch ein paar wichtige Prinzipien in Vergessenh­eit gedrängt, das Kind mit dem Bade ausgeschüt­tet und eine wesentlich­e Tradition emanzipato­rischen Denkens einfach abgeschnit­ten. Man sieht das daran, wie leichtes Spiel gelegentli­ch antiaufklä­rerische Positionen haben, etwa die, dass man extremisti­sche oder menschenve­rachtende Meinungen nicht einmal referieren solle, da das gemeine Volk, doof wie es ist, von denen infiziert werden könnte. Oder dass wir uns vor Schockerfa­hrungen schützen müssen, die bisweilen schon mit der provokante­n, ungeschönt­en Abbildung der Wirklichke­it einhergehe­n.

Doofes Volk

Früher hätte man gesagt: Wenn die Welt weiß, wie Krieg aussieht, würden die Menschen gegen Kriege protestier­en. Heute sagt man eher: Wenn du das Bild von Kriegstote­n in die Zeitung bringst, könnte sich jemand beim Anblick erschrecke­n. Wir sollten die gute alte Aufklärung wieder mit mehr Nachdruck verteidige­n.

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