„Die Natur hat das Chaos in sich“
Reinhold Messner sieht die Erhabenheit der Berge bröckeln. Schuld daran seien Infrastrukturmaßnahmen und Touristen. Der Südtiroler Extrembergsteiger und Ex-Grünen-Mandatar sorgt sich um den puren Alpinismus und kritisiert die Politik.
Reinhold Messner sitzt bei drückender Schwüle tiefenentspannt auf einer Bank aus versteinertem Holz aus Madagaskar. Hinter ihm das Gemäuer der fein renovierten Ruine Schloss Sigmundskron bei Bozen, das als Zentrum der Messner-Mountain-Museen fungiert. Vor ihm tauchen laufend Besucher mit gezückten Handys auf: „Herr Messner, bitte, Herr Messner ...“Die als Fotomotiv geschätzte Bergsteigerlegende setzt sich seit langem nicht nur für die Erhaltung der Bergwelten ein – Messner hat sich auch mit der Beleuchtung und Kritik der nationalsozialistischen Einflussnahme auf seine Zunft einen Namen gemacht und dies in Büchern aufgearbeitet. Der Südtiroler empfing den Standard knapp vor seinem 75. Geburtstag zur Audienz.
Standard: Wann waren Sie zuletzt bergsteigen?
Messner: Ich war den ganzen Juni in den Bergen rund um den Nanga Parbat. Ich habe dort hoch oben in den einsamen Tälern vier Schulen gebaut, die habe ich besucht. Und ich war auch bergsteigen, aber nicht extrem. Ich habe keine Notwendigkeit, in meinem Alter zu zeigen, was ich nicht mehr kann. Auf den Everest mit Sauerstoff und drei Sherpas, die ziehen, geht immer noch, aber das ist nicht mein Ziel.
Standard: Sie bezeichnen dies als Tourismus von der Stange.
Messner: Es ist legitim, es muss nur als das beschrieben werden, was es ist. Die unteren Regionen sollen auch weiterhin nach heutigen Möglichkeiten gestaltet und als Tourismus betrieben werden. Was steht, das steht, da hängen auch Arbeitsplätze dran. Aber jetzt bauen sie eine Piste bis auf den Gipfel des Everest, das kostet Millionen. Die Leute haben im Basislager Sauna, Fernseher und Dusche. Es wird diskutiert, ob man nicht die Genehmigungsgebühr auf 35.000 Dollar hinaufsetzen soll, damit nicht mehr alle das machen können. Der bescheidene, junge Bergsteiger, der sich am Everest messen will, ist dann ausgegrenzt. Das Geld kassieren die nepalesische Regierung und die Reisebüros. Die Nepali kriegen nicht viel.
Standard: Das Foto von Menschen, die am Gipfelgrat des Mount Everest Schlange stehen, ging vor kurzem um die Welt. Ließen sich derartige Staus vermeiden?
Messner: So schlimm wie heuer war es noch nie, weil das Zeitfenster knapp war. Es gibt nur eine Lösung: Die Medien müssen weltweit ganz genau beschreiben, wie es läuft. Dann ist die Anerkennung weg. Sie fotografieren sich am Gipfel und behaupten, sie wären allein dort oben gewesen. Sie suggerieren, es in Eigenständigkeit gemacht zu haben, wissen aber genau, dass es eine Farce ist.
Standard: In Ihrem Buch „Rettet die Berge“kritisieren Sie den zunehmenden Eventcharakter des Bergsteigens. Freut Sie nicht, dass viele Menschen nun die Natur entdecken?
Messner: Es gibt nicht mehr so viel Frieden bei der Almhütte. Daneben muss ein Klettersteig, eine Aussichtsplattform sein, sonst kommen die Leute nicht. Sie gehen dorthin, wo ein Event stattfindet. Aber der Berg ist ja an sich schon die größtmögliche Bühne. Es gibt immer weniger, die wirklich auf den Berg raufsteigen, die meisten klettern. Das ist ein großartiger Sport, und die Alpenvereine werden mehr und mehr Sportvereine, auch weil sie damit am Kuchen des Sports mitpartizipieren können. Niemand kümmert sich darum, was eigentlich Bergsteigen ist. Es ist die Auseinandersetzung der Menschennatur und der Bergnatur auf der anderen Seite. Sie findet im Grunde nur stark statt, wenn wir den Berg unberührt lassen.
Standard: Sie behaupten, die Erhabenheit der Berge gehe verloren. Wie ist das zu verstehen?
Messner: Ein Berg, auf den eine Menschenkolonne von 150 Leuten raufgeht, hat die Erhabenheit schon verloren. Was soll das? Die oberen 2000 Meter bis auf die Gipfel haben nur als Wildnis einen Wert, sonst ist es nur mehr Spielfläche für Fit for Fun. Die Staaten sollten beschließen, dass genug erschlossen wurde.
Standard: Aber versucht nicht der Mensch seit jeher, die Natur zu zähmen?
Messner: Schon, aber das können wir nicht, das hört am Berg auf. Wir können einen Berg zähmen, indem wir eine Seilbahn, eine Straße, Hütten raufbauen. Aber die großen Berge sollten wir lassen, wie sie sind, dann tragen sie alle Werte in sich, um die allermeisten Bergsteiger auszugrenzen. Viele kriegen Angst und gehen nicht hinauf, dann sind die Bergsteiger völlig vernünftig verteilt. Die Massen sind nur dort, wo es Infrastruktur gibt. Also: keine Infrastruktur, kein Overtourismus. Aber die Politiker haben nicht den Mut, das zu machen.
Standard: Ein unmögliches
Unterfangen?
Messner: Ein großes Projekt wie eine Seilbahn auf einen schönen Berg findet mehr Wählerstimmen, weil ein ganzes Dorf dahintersteht. Politik ist leider von Wählerstimmen abhängig, und da ist der Populismus nicht weit. Nicht nur Heinz-Christian Strache und Matteo Salvini sind Populisten, auch Horst Seehofer hat gesagt, er sei stolz, Populist zu sein, weil er die Verpflichtung habe, für das Volk etwas zu tun. Aber ein Politiker hat dann und wann auch die Verpflichtung zu sagen: Das Volk durchschaut das nicht, wir müssen anders entscheiden. Volksabstimmungen sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie die Demokratie aushöhlen. Es kann eine Zeitung gewinnen oder eine Gruppe, die das Internet beherrscht.
Standard: Manche Kritiker bezeichnen Sie als Miturheber des Massentourismus in den Bergen. Woher kommt dieser Vorwurf?
Messner: Ich habe seit 30 Jahren im Gegensatz zu den Kritikern genau dagegen angeschrieben. Und ich habe gezeigt, dass es anders geht. Die neue Kritik ist, dass ich mit meinen Museen auch Tourismus mache. Natürlich, ich bin Teil davon, aber ich halte die Werte hoch, die zum Berg gehören. Ich habe ein Zentrum und fünf Satellitenmuseen geschaffen, wo ich Details erzähle: Eis, Fels, Bergvölker, heilige Berge und traditioneller Alpinismus. Sie tragen sich selber, und wir unterfüttern den Bergtourismus mit der kulturellen Seite. Und weil das funktioniert, wird mir unterstellt, dass ich Massentourismus machen würde. Wenn dies Massentourismus ist, dann möchte ich wissen, was das ist, was bei den Drei Zinnen los ist, wo am Tag 5000 Leute kommen.
Standard: Sie haben oftmals betont, dass es Ihnen nicht um Rekorde ging. Welchen Wert haben Ihre erbrachten Leistungen für Sie?
Messner: Ein Rekord ist ein sportlicher Begriff, Bergsteigen ist nicht Sport, ist eine Auseinandersetzung mit der großen Bergnatur. Dass ich auf den höchsten Berg gestiegen bin, ist kein Rekord. Man müsste Zeiten einführen, nach irgendeinem Maß messen, ob ich schneller bin als andere. Beim Sportklettern macht man das auf künstlichen Wänden. Ich bin ja gespannt, was die Leute denken, wenn sie bei Olympia sehen, wie die Kletterer 20 Meter wie Frösche die Wand hochhüpfen. Das ist lächerlich. Ich glaube nicht, dass man dem Bergsteigen damit einen Gefallen tut. Der Bergsteiger hält das Narrativ aufrecht, was eigentlich Bergsteigen ist, damit es nicht verlorengeht.
Standard: In Ihrem eben erschienenen Buch „Der Eispapst – Die Akte Welzenbach“porträtieren Sie einen nicht sehr bekannten Alpinisten. Was fasziniert Sie an ihm?
Messner: Wilhelm Welzenbach war damals der beste, wichtigste Bergsteiger, nicht nur im deutschsprachigen Raum. Er war der erste, der senkrechtes Eis bewältigte. Ihm hat man ziemlich böse mitgespielt, zuerst unter Kollegen, dann viel radikaler unter der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Er ist dann im Rahmen dieser Ausgrenzung umgekommen. Eine interessante Geschichte, die ich mit Neugierde und zum Teil auch mit Erschütterung und Trauer geschrieben habe.
Standard: Wie sehr waren bei Ihren Expeditionen Gedanken an den Tod Wegbegleiter? Messner: Jeder Mensch, der einigermaßen Lebenserfahrung hat, weiß, dass er ein Sterbender ist. Aber das schieben wir alle vor uns her. Wir haben Angst vor dem Sterben, weil wir nicht wissen, was passiert, oder befürchten, dass es mit Schmerz oder Verzweiflung zusammenhängt. Ich habe am Nanga Parbat eine Nahtoderfahrung gemacht, das ist dann konkret, das ist was anderes. Ich habe festgestellt, dass das Sterben nicht schlimm ist, es ist eine Erlösung. Solange uns der Selbsterhaltungstrieb am Leben halten kann, macht er das, und wenn er merkt, dass es verlorene Liebesmüh’ ist, dann lässt er den Menschen einfach in den Tod fallen. Ich bin zufällig wieder aufgestanden und weitergekommen. Ich hatte fünf Tage nichts gegessen, war aber in einem Moment der absoluten Erschöpfung trotzdem froh. Es war wie eine Befreiung.
Standard: Wie entscheidet man bei inneren Konflikten zwischen Instinkt und Intellekt?
Messner: Das letzte Wort hat der Instinkt. Der Intellekt greift korrigierend ein. Die Natur ist immer neu, sie will nichts, sie ist absichtslos, hat das Chaos in sich. Wir können berechnen, rational gegensteuern, aber wenn es hart auf hart geht, eine Lawine oder Steine abgehen, kann man nicht mehr anfangen zu rechnen, dann weicht man instinktiv aus.
Standard: Was ist emotional schöner – auf dem Gipfel zu stehen oder gesund ins Tal zu kommen?
Messner: Das Zurückkommen ist der Schlüssel zum Reichtum, im Sinne von Erfahrungs- und Emotionsreichtum. Das Zurückkommen ist wie eine Wiedergeburt, weil ich mich fast bis zum Tod exponiere und in der Lage bin, dank meiner Fähigkeiten, aber vor allem dank des Selbsterhaltungstriebs aus dieser tödlichen Situation zurückzukommen. Es wachsen uns Erfahrungen zu, das gibt Selbstmächtigkeit, und dann kommt die Erkenntnis, dass ich noch das ganze Leben vor mir habe, wiedergeboren bin. Das erste Mal hat das die Mutter verantwortet, jetzt habe ich das hingekriegt. Das beflügelt. Und dann denkt man, dass noch ein bisserle mehr geht. Das ist kein Kick, auch kein Rausch, das ist der Gang der Dinge.
Standard: Vom Berg nicht mehr zurückgekehrt sind David Lama und Hansjörg Auer.
Messner: Das war ein tragischer, dramatischer Moment. Es ist im Grunde die Bestätigung, dass jeder zweite der besten Kletterer und Bergsteiger am Berg umkommt. Das sagt die Statistik. Und das ist im Grunde eine Zahl, die nicht zu verantworten ist. Sie waren unter den absoluten Spitzenbergsteigern. Vorher ist aus dieser Generation Ueli Steck, der auch zur absoluten Spitze gehörte, am Nuptse abgestürzt. Nicht die Besten überleben, sondern es wird gewürfelt. Ich bin ein großer Bewunderer dieser Kletterkünstler. Sie gibt es nur dann und wann, sie ragen über alle anderen hinaus, aber auch sie sind vor dem frühen Tod am Berg nicht gefeit.
REINHOLD MESSNER (74) bestieg als Erster ohne Flaschensauerstoff alle 14 Achttausender, als Erster solo einen Achttausender (Nanga Parbat). Er durchquerte die Antarktis und die Wüste Gobi. Er schrieb zahlreiche Bücher, vertrat Italiens Grüne fünf Jahre im EU-Parlament und betätigt sich auch als Filmemacher.
„Wir können einen Berg zähmen, indem wir eine Seilbahn, eine Straße, Hütten raufbauen. Aber die größten Berge sollten wir lassen, wie sie sind, dann tragen sie alle Werte in sich.“