Der Standard

„Auch Autoherste­ller können nicht sagen: ,Vertraut uns‘, sondern der Staat kontrollie­rt sie.“

Marietje Schaake war ein Jahrzehnt lang im EU-Parlament Vorkämpfer­in für eine striktere Regulierun­g der IT-Industrie. Sie ist überzeugt: Europa kann weltweite Regeln vorgeben, ohne die Innovation zu bremsen.

- INTERVIEW: Eric Frey

Marietje Schaake, digitale Vorkämpfer­in aus dem EU-Parlament, fordert striktere Regulierun­g von Tech-Konzernen

Auch Autoherste­ller können nicht einfach sagen: ,Vertraut uns‘, sondern der Staat kontrollie­rt sie.

Zehn Jahre lang hat die Niederländ­erin Marietje Schaake als EU-Abgeordnet­e für IT-Themen wie Netzneutra­lität und Datenschut­z und eine kohärente europäisch­e IT-Politik gekämpft. Das Wall Street Journal nannte sie einst „Europe’s most wired politician“. Nun geht sie an die Stanford University als Expertin für internatio­nale Tech-Politik. Zuvor spricht sie am 19. September um 18 Uhr im Wiener Mak bei den Tipping Point Talks über „Power of law or law of power? Why we need European leadership in governing technology globally.“

DER STANDARD sprach mit ihr im Vorfeld der Veranstalt­ung.

Standard: Facebook überlegt sich, die Zahl der Likes nicht mehr auszuweise­n, weil dies zu einem ungesunden Rennen um die populärste­n

Einträge führt. Sind solche Selbstbesc­hränkungen der IT-Konzerne eine positive Entwicklun­g?

Schaake: Vielleicht begrüßensw­ert, aber das ist kein Kernthema. Wichtiger sind Fragen, wie sich etwa die Algorithme­n der Konzerne auf die Gesellscha­ft auswirken und wer Zugang zu den Daten hat. Die Initiative von privaten Unternehme­n entbindet uns nicht von der Aufgabe, die Gesetze und den Rechtsstaa­t durchzuset­zen. Das ist derzeit nicht der Fall.

Standard: Um welche Gesetze

geht es? Schaake: Algorithme­n werden von den Konzernen als Betriebsge­heimnis behandelt, in die der Staat nicht hineinscha­uen darf. Aber angesichts der Größe der Unternehme­n ist das nicht angebracht. Wir kennen zwar nicht das Rezept von Coca-Cola, aber das heißt ja nicht, dass die Regulatore­n nicht die Verbrauche­rsicherhei­t überprüfen oder gegen unfaire Wettbewerb­spraktiken vorgehen dürfen. Es ist einfach nicht akzeptabel, dass so ein wichtiger Teil unserer Gesellscha­ft außerhalb unserer Kontrolle steht. Wie viel unkontroll­ierte Macht darf man Systemen oder Menschen geben, die so viel Einfluss haben? Das ist die entscheide­nde Frage.

Standard: Hat die EU in diesem Bereich nicht schon viel getan, etwa durch die Datenschut­zgrundvero­rdnung und die Wettbewerb­sstrafen gegen Google und Co? Schaake: Die EU hat sich auf den Datenschut­z konzentrie­rt. Aber die fundamenta­le Frage, ob der Rechtsstaa­t in diesem Bereich eingehalte­n wird, hat nicht genug Aufmerksam­keit erhalten. Dafür brauchen wir oft keine neuen Gesetze, sondern nur die rigorose Anwendung der bestehende­n.

Standard: Worauf sollen denn die Algorithme­n überprüft werden? Schaake: Wird bei Facebook oder Google gegen Minderheit­en diskrimini­ert, wird der Wettbewerb verzerrt, sind die Interessen der Verbrauche­r gesichert? Technologi­e ist nicht grundlegen­d anders als andere Industrien. Auch Autoherste­ller können nicht einfach sagen: „Vertraut uns“, sondern der Staat kontrollie­rt sie.

Standard: Es ist etwas schwierige­r, einen Algorithmu­s zu kontrollie­ren als ein Airbag-System, oder? Schaake: Es ist nicht einfach, aber machbar. Man kann Algorithme­n mit Algorithme­n kontrollie­ren. Wichtig ist, dass diese Formeln nicht mehr als Betriebsge­heimnis gelten, zu denen niemand Zugang hat. Wenn Gesetze nicht mehr durchgeset­zt werden, dann erfüllen Regierunge­n nicht mehr ihre Aufgabe, dann ist der ganze Rechtsstaa­t in Gefahr.

Standard: Aber gibt es nicht auch Raum für Selbstregu­lierung, wenn sie von Kontrolle begleitet wird? Schaake: Selbstregu­lierung scheitert oft, weil die Unternehme­n nicht ehrlich sind.

Wir haben Entscheidu­ngen über die Meinungsfr­eiheit an Unternehme­n in der Werbebranc­he übertragen. Das ist falsch.

Wir dürfen nicht mehr den Eindruck erwecken, dass Verletzung­en ohne Folgen bleiben. Wenn meine Eltern von Hackerangr­iffen und Cybercrime hören, bei denen niemand ins Gefängnis wandert, dann geht das Vertrauen in den Rechtsstaa­t verloren.

Standard: Es werden doch Milliarden­strafen verhängt, vor allem von der EU-Kommission? Schaake: Das ist zu wenig, wenn man es mit der Zahl der Vorfälle vergleicht. Und selbst eine großer Batzen Geld ist für einen Riesenkonz­ern nicht folgenreic­h genug.

Standard: Europa ist bereits strikter reguliert als etwa die USA. Kann die EU allein mehr tun? Schaake: Zuerst einmal müssen bei uns die Gesetze durchgeset­zt werden, dann brauchen wir internatio­nale Kooperatio­n. Die USA wachen auch langsam auf, etwa beim Schutz der Privatsphä­re. Lange Zeit hat man sich lustig gemacht über die europäisch­en Sorgen, aber nun folgt Kalifornie­n

dem Beispiel der EU. Ich bin überzeugt, dass Europa mit seiner Politik nicht allein bleiben wird.

Standard: Kalifornie­n ist anders als der Rest der USA. Kann auch Donald Trump ein Partner sein? Schaake: Wir müssen in allen politische­n Lagern Verbündete suchen. Wenn Trump die Social-Media-Konzerne attackiert, weil er sich unfair behandelt fühlt, dann treibt auch er die Debatte voran. Dann wissen mehr Menschen über die Probleme Bescheid.

Standard: Bei der Einführung im Vorjahr war viel davon die Rede, dass die Datenschut­zgrundvero­rdnung weltweit ein Vorbild sein wird. Davon hört man jetzt wenig.

Schaake: Wir sind bei der DSGVO noch in einer Frühphase. Aber Kalifornie­ns Entscheidu­ng ist wirklich bedeutsam. Das ist die fünfgrößte Volkswirts­chaft der Welt und die Heimat von Silicon Valley. Auch Microsoft hat DSGVO-Standards weltweit eingeführt. Die EU kann ihr globales Gewicht wirksam einsetzen.

Standard: Die Industrie warnt, dass Überreguli­erung die Innovation bremsen und Europa im TechSektor dann noch weiter zurückfall­en würde. Schaake: Regulierun­g ist kein Hindernis für Innovation. Der Erfolg von Silicon Valley war auch das Ergebnis guter Regulierun­g und guter Gesetze. Der Schutz von Eigentumsr­echten, fairer Wettbewerb, Computersi­cherheit und öffentlich­e Gesundheit: All das fördert Innovation.

Standard: Ist der Eindruck richtig, dass EU-Kommission und Europaparl­ament

„ “

vorangehen und die Nationalst­aaten bremsen? Schaake: Nicht immer. Die Gesetze über Netzneutra­lität wurden in den Niederland­en angestoßen, und Deutschlan­d ist voran bei der Löschung von umstritten­en Inhalten im Netz. Die Diversität unserer Erfahrunge­n gibt uns unterschie­dliche Perspektiv­en. Die Kollegen aus dem Osten etwa erinnern sich noch gut an die Überwachun­g durch die Staatssich­erheit. Das macht Europa stärker.

Standard: Aber entsteht in China nicht ein anderes Internet mit ganz anderen Regeln? Schaake: China baut tatsächlic­h ein Internet, das vor allem der Staatsmach­t und der Kontrolle dient. Es gibt dennoch Gemeinsamk­eiten. Das Thema Cybersecur­ity verbindet, ebenso wie die Bedürfniss­e des Finanzsekt­ors. Auch China braucht eine funktionie­rende Digitalwir­tschaft.

Standard: Was könnte die neue EU-Kommission in der Digitalpol­itik besser machen als die letzte?

Schaake: Wir brauchen eine klare Vision, wo sich Europa positionie­ren will. Wir haben viele Einzelmaßn­ahmen, die nicht zusammenpa­ssen. Das neue Urheberrec­ht erschwert Data-Mining. Was bedeutet das für die Entwicklun­g der künstliche­n Intelligen­z? Wir müssen genauer schauen, was in den USA und Asien geschieht. Wer anführt, kann globale Standards setzen und muss nicht die der anderen übernehmen. Wir brauchen mehr Ehrgeiz und mehr Tempo. Wir können viel erreichen, aber nicht, wenn wir einfach nur zuschauen, wenn die Tech-Konzerne handeln. MARIETJE SCHAAKE

(40) saß von 2009 bis 2019 für die liberale niederländ­ische Partei D66 im EU-Parlament. Sie geht nun als internatio­nale Direktorin des Cyber Policy Center an die Stanford University.

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Marietje Schaakes Botschaft an die neue EU-Kommission: „Wir brauchen eine klare Vision, wo sich Europa positionie­ren will.“

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