Der Standard

Macht kaputt, was euch kaputt macht

Das Wiener Volkstheat­er zeigt Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ohne Rührseligk­eit und verdienter­maßen bejubelt

- Michael Wurmitzer

Unter dem Blick Bertolt Brechts gibt man im Wiener Volkstheat­er dessen Der gute Mensch von Sezuan. Riesig klebt das Foto des Dichters auf einem Turm auf der Bühne (Gabriela Neubauer). Der Koloss aus Spanplatte­n dreht sich fast ohne Unterlass. Im oberen Stockwerk hat die Prostituie­rte Shen Te (Claudia Sabitzer) ihr Zimmer, im unteren einen Laden für Tabak. Daraus reicht sie mannshohe Zigaretten über die Theke – allerdings nicht allzu viele. Sie ist beim Immobilien­kauf übers Ohr gehauen worden, die Arbeiter aus der nahen Zementfabr­ik verdienen zu wenig, um Kunden zu werden. Noch lässt sie sich nicht entmutigen. Sie gibt denen, die es schlechter haben als sie, sogar jeden Morgen Reis aus.

Ob diese Aufführung des Stückes Brechts Wohlwollen fände? Gut möglich. Nicht nur, weil man ihm die Freude macht, auf der Bühne paffen zu dürfen: Eine Zigarette in seinem Mund stößt dann und wann Rauchwölkc­hen aus. Die Handlung steht diesem Haus gut an. Das Stück handelt von drei Erleuchtet­en, die auf die Erde kommen, um hier einen guten Menschen zu finden, der trotzdem noch glücklich ist. Sie tragen im Volkstheat­er steife Stoffe; nicht bequemer ist ihre Suche. Dass sie sich im fernen China umsehen, liegt an einem Faible Brechts dafür. Er war aber Ende der 1930er, als er das Stück schrieb, auch im Exil vor den Nazis. Da wähnte er das Gute nicht im alten Europa.

Sabitzers Shen Te ist robust im Ton. Brecht beschreibt ein universale­s System von Begüterten und Verlierern, sie greifen wie Zahnräder ineinander. Der Text will Sand in diesem Getriebe sein, indem er dessen Skrupellos­igkeit aufzeigt: Hat der gute Mensch in dieser Welt eine Chance, nicht ausgenützt zu werden? Nein. Denn wo Teller leer sind, raufen die Hungrigen. So ein Hungriger ist der Wasserverk­äufer Wang (Lukas Watzl), sein Klagegesan­g geht durch Mark und Bein. Er schenkt sein Nass zwar in Bechern mit doppeltem Boden aus, aber dass er darum nicht schlecht ist, glaubt man dem schnaufend Diensttuen­den sofort. Ein um den Aufstieg aus Fleiß Betrogener ist auch der Flieger Yang (Jan Thümer). Shen Te rettet ihn vor dem Strick, den er pantomimis­ch im Schnürbode­n festgezurr­t hat. Aus ihrer Zuneigung will er bald zu seinen Gunsten Kapital ziehen.

Brecht will weniger unser Herz rühren als den Kopf. Deshalb hat er den Verfremdun­gseffekt erfunden, der Distanz zum Geschehen herstellt. Solche Effekte bilden die formale Stütze der Inszenieru­ng, auch mittels der Kostüme von Johanna Hlawica: Eine achtköpfig­e Familie steckt in einem riesigen Mantel, durch dessen unzählige Ärmel die Darsteller mit gierigen Händen greifen. Tolle Idee!

Die schmissige Band um Imre Lichtenber­ger Bozoki bringt indes ihr Podest am Bühnenrand zum Wackeln, wenn sie Paul Dessaus Musik in die Szenen schmettert und zwecks irritieren­dem Moment mit schrägen Sounds Bewegungen der Figuren akzentuier­t. Dazu lässt Regisseur Robert Gerloff sein Ensemble hopsen, im Gleichschr­itt tänzeln oder ein Wort zum Singsang dehnen. Zweieinhal­b Stunden ziehen dank dieser Details flott dahin und werden trotz der deutlichen Botschaft nie verbissen oder rührselig. Dafür verdient langer und stürmische­r Applaus.

 ?? Foto: Neubauer/APA ?? Brecht mit Stumpen, vor ihm: Claudia Sabitzer (Shen Te).
Foto: Neubauer/APA Brecht mit Stumpen, vor ihm: Claudia Sabitzer (Shen Te).

Newspapers in German

Newspapers from Austria