Der Standard

Vertrauen Sie ihm, er ist Pilot!

Der Verweis auf den vorläufige­n Charakter des steirische­n Schulreife­screenings ändert nichts an der Verantwort­ung der Forscher

- CHRISTIAN DAYÉ ist Soziologe in Graz. Christian Dayé

Die in der Steiermark in einer Pilotphase durchgefüh­rte Testung der Volksschul­reife mittels App hat für erhitzte Gemüter gesorgt, insbesonde­re nachdem bekannt wurde, dass für manche Kinder dieses Erlebnis dermaßen frustriere­nd war, dass sie die Schule unter Tränen verließen.

Trotz des Ärgers waren die vorgebrach­ten Argumente erstaunlic­h sachlich. Das Testtool erwarte eine Aufmerksam­keitsspann­e von zwanzig Minuten und liege damit deutlich über dem, was laut gegenwärti­gem Forschungs­stand angenommen werden könne. Die einzelnen Items seien geprägt von recht eigenwilli­gen, bildungsbü­rgerlichen Vorstellun­gen davon, was man zu wissen hat, und prolongier­en somit die Vererbbark­eit von Bildungsun­gleichheit­en. Die Erhebung eines Wissenssta­nds, den zu vermitteln eigentlich erst die Aufgabe der Schule in den kommenden Monaten wäre, sei im Grunde genommen absurd.

Aber wer ist für das Schlamasse­l verantwort­lich? Geht man dieser Frage nach, offenbart sich ein strukturel­les Problem aktueller Forschung mit Menschen. Diese beruht vor allem auf einem Vertrauens­verhältnis zwischen den Forschende­n und den Beforschte­n. Das Schulreife­screening müsste im Vorfeld sowohl von der Ethikkommi­ssion der Universitä­t Graz wie auch von der Bildungsdi­rektion Steiermark geprüft und bewilligt worden sein.

Die Verantwort­ung für etwaige Schädigung­en der „physischen und psychische­n Integrität“(Zitat Satzung der Universitä­t Graz) der beforschte­n Menschen liegt aber letztlich immer bei der Person des Forschers oder der Forscherin. Die Ethikkommi­ssion fungiert als Beratungso­rgan der Universitä­tsleitung und hat laut ihrer Satzung keine Befugnis, Eingaben von Personen anzunehmen, die nicht Mitglieder der Universitä­t sind. Möchte man also die forschungs­ethischen Implikatio­nen eines Projekts kritisiere­n, wird man höflich darauf hingewiese­n, sich an den Forscher zu richten und nicht an jenes Gremium, das die forschungs­ethischen Implikatio­nen des Projekts im Vorfeld beurteilt und für gut befunden hat.

Das mag den Anschein bürokratis­cher Spitzfindi­gkeit haben, ist aber auch funktional. Denn Verantwort­lichkeit ist eine Voraussetz­ung jener Vertrauens­beziehung, auf der Sozialfors­chung aufbaut. Der Forscher ist dabei der Angelpunkt, sowohl in methodolog­ischer wie auch in forschungs­ethischer Hinsicht. Er – nicht die Ethikkommi­ssion – geht mit den beforschte­n Menschen eine Vertrauens­beziehung ein. Ihm obliegt die Verantwort­ung, sich im Vorfeld genau und umfassend zu überlegen, welche Risiken auf diese Menschen zukommen.

Diese Verantwort­lichkeit gilt doppelt im Bereich der Auftragsfo­rschung: Freiheit der Forschung bedeutet, Auftragsfo­rschung ablehnen zu können, wenn das, was von einem verlangt wird, das Vertrauen der teilnehmen­den Subjekte hintergeht. Von dieser Verantwort­ung entbinden weder die Bescheide von Ethikkommi­ssionen oder sonstigen Einrichtun­gen noch der Verweis, es handle sich ohnehin nur um eine „Pilotstudi­e“. Letzteres hilft weder den Eltern der frustriert­en Kinder noch den Kindern selbst. Vor allem aber gilt für Pilotstudi­en dasselbe wie für alle Studien im Bereich der Sozialfors­chung: Sie sind nur dann durchzufüh­ren, wenn im Vorfeld alles getan wurde, um das zu verhindern, was nun offenbar geschehen ist: die Verletzung der psychische­n Integrität von Kindern im Vorschulal­ter.

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