Kurden demonstrieren gegen Erdogan – und Trump
Washington und mehrere europäische Staaten fordern Ankara zu einem Ende der Offensive in Syrien auf. Präsident Erdogan gibt sich davon ebenso unbeeindruckt wie von Berichten über Gräueltaten.
Nicht nur in Europa wurde am Wochenende gegen die Offensive der Türkei im Norden Syriens demonstriert – auch in Washington gingen zahlreiche Kurdinnen, Kurden und deren Sympathisanten auf die Straße. Ihr Protest galt auch US-Präsident Donald Trump, der mit dem Abzug von US-Truppen die Offensive möglich gemacht hatte. Aus dem Kriegsgebiet wurde am Sonntag die Einnahme erster kurdisch kontrollierter Städte durch Verbündete Ankaras vermeldet. Zudem gab es Berichte über Gräueltaten.
Tayyip Erdogan gibt sich unbeeindruckt von der internationalen Kritik am türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Bei einer Pressekonferenz am Sonntag setzte er den türkischen Truppen und ihren Verbündeten sogar noch neue Ziele: Bis zu 35 Kilometer ins Innere des Nachbarlands sollen diese vordringen, so der türkische Präsident. Bisher hatte Ankara eine „Sicherheitszone“von 30 Kilometern gefordert. Das Abkommen von Adana mit Syrien, auf das Ankara sich beruft, erlaubt der Türkei unter bestimmten Bedingungen „Antiterroreinsätze“bis 15 Kilometer über die eigene Grenze hinaus.
Wie genau die Offensive gegen kurdische Kämpfer der YPG voranschreitet, war auch am Wochenende nicht mit letzter Klarheit zu eruieren. Videos und Meldungen, die über soziale Medien verbreitet wurden, zeigten Grausamkeiten, die von den syrischen Verbündeten der Türkei verübt worden sein sollen, darunter die Erschießung von Gefangenen und von Zivilisten. Ob auch SocialMedia-Videos, die Enthauptungen zeigen, aktuellen Datums sind, ließ sich nicht mit Sicherheit bestätigen. Belegt ist inzwischen der Mord an der kurdischen Politikerin Havrin Khalaf. Die Chefin der Partei Zukunft Syriens (FSP) und Frauenrechtlerin war in einen Hinterhalt geraten.
Angriff auf Konvoi
Am Sonntagabend wurde ein türkischer Luftangriff auf einen Konvoi mit Zivilisten und ausländischen Journalisten in Nordsyrien bekannt. Laut einer Aktivistengruppe wurden zehn Menschen getötet. Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte, traf der Angriff den Konvoi in der nordsyrischen Grenzstadt Ras al-Ain. Die französische Journalistin Stephanie Perez schrieb auf Twitter, sie sei in dem Konvoi gewesen. Ihrem Team gehe es gut, doch Kollegen seien tot. Nach Angaben Erdogans belagern die von der Türkei befehligten Kämpfer Ras al-Ayn.
Die USA, deren Truppenabzug aus den nordsyrischen Kurdengebieten die Offensive ermöglicht hatte, drohen Ankara derweil mit Sanktionen. Präsident Donald Trump sprach von „schnellen, starken und harten“Maßnahmen gegen die türkische Wirtschaft, wenn Ankara Verpflichtungen nicht einhalte. Dazu gehöre der Schutz religiöser Minderheiten und die Bewachung von IS-Gefängnissen. Diese Verantwortung hatten bisher Kurden wahrgenommen, die ihre Kämpfer nun anderswo benötigen. Berichten zufolge konnten mittlerweile mehrere hundert ehemalige IS-Kämpfer entkommen.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel forderte in einem Telefonat mit Erdogan ein Ende der Offensive. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer verlangte eine „klare Antwort“der Nato auf das Vorgehen des Bündnispartners Türkei. Sie kritisierte aber auch das „verheerende Signal an die Kurden“, das die USA mit ihrem Abzug gesetzt hätten.
Russlands Präsident Wladimir Putin forderte den Abzug aller ausländischen Truppen aus Syrien. Er habe darüber mit den USA, der Türkei und dem Iran gesprochen. Dass auch die russische Armee, die das Regime von Bashar al-Assad stützt, das Land verlassen könnte, schloss er aus.
Kurden-Deal mit Assad
Am Abend hieß es dann, die Kurden hätten einen Deal mit der Regierung in Damaskus geschlossen. Truppen Assads sollten demnach in den Städten Kobane und Manbidsch einmarschieren.
Die Arabische Liga hat den Einmarsch der Türkei verurteilt. Zudem werden Rufe immer lauter, Syrien wieder in den Staatenbund aufzunehmen. Proteste gegen den Angriff auf die Kurden gab es in zahlreichen Städten weltweit.
Russland kommt durch Berichte der New York Times unter Druck. Sie präsentierte Aufnahmen, die belegen sollen, dass die Armee Spitäler in Rebellenorten bombardierte.
Zur türkischen Offensive in Nordsyrien lässt sich fünf Tage nach Beginn eine erste Bilanz ziehen, und sie ist so einfach wie verheerend: Alles, was zu befürchten war, auch das Schlimmste, trifft ein.
Das Leiden der Zivilbevölkerung, der nur die Wahl zwischen türkischer Bombardierung sowie den Angriffen der syrischen Söldnertruppen Ankaras oder der Flucht bleibt; die Kriegsverbrechen, die an kurdischen Gefangenen verübt werden; die Korrosion der Gefängnisse und Lager, in denen Terroristen des „Islamischen Staats“beziehungsweise deren Angehörige festgehalten werden: Die Büchse der Pandora hat sich geöffnet, und niemand weiß, wie sie sich wieder schließen lässt.
Auch der maximale Druck auf die Türkei würde erst einmal gar nichts bewirken. Selbst wenn sie die Offensive stoppt, würde es zu spät sein. Die Folgen dessen, was soeben in Nordsyrien passiert, lassen sich noch gar nicht abschätzen. Auch die USA werden ihr eigenes totales Versagen nicht so ohne Weiteres abschütteln können.
Die Berichte von Erschießungen durch die von der Türkei rekrutierten syrischen Rebellengruppen machen besonders wütend. Es ist richtig, dass so etwas im Bürgerkriegsland Syrien seit Jahren geschieht. Aber dass ein Nato-Staat sich bei einer Militäroperation, deren angebliche Legitimität er mit der Uno-Charta und Sicherheitsratsresolutionen untermauert, paramilitärischer Verbrecherbanden bedient, ist eine Schande für Ankara und für die ganze Nato. Die Türkei weiß genau, was sie tut, wenn sie diese Milizen loslässt. Syrische „Rebellen“? Schon längst nicht mehr.
Als nicht ernst gemeint oder als grobe Selbstüberschätzung erweisen sich auch die türkischen Behauptungen, man werde den AntiIS-Kampf, der von Washington in die Hände Ankaras gelegt worden sei, weiterführen. Auch die USA, deren Präsident Donald Trump durch seine Chaospolitik alles ausgelöst hat, sehen das anders: Sonst hätten sie nicht selbst mit der Verlegung besonders gefährlicher IS-Verbrecher begonnen. Abgesehen davon, wie viele von ihnen aus den Gefängnissen und den Lagern entkommen werden, bedeutet der Wegfall der von den kurdischen YPGMilizen geführten „Syrischen Demokratischen Kräfte“für den IS neue Luft zum Atmen. Die SDF haben ihn bekämpft und in Schach gehalten.
Sie wurden von den USA dazu aufgestellt, man kann auch sagen, dafür benützt. Man muss die syrisch-kurdischen PYD/YPG nicht idealisieren, es bleibt dennoch festzuhalten: Sie haben in Nordostsyrien mit dem Kampf gegen den IS die Drecksarbeit für die ganze Welt erledigt. Und nebenher noch versucht, eine moderne Verwaltung in dem Gebiet aufzubauen. Das haben sie nicht verdient.
Ja, auch die Last, die die Menschen in der Türkei seit Jahren an den Flüchtlingen aus Syrien tragen, wird zu wenig gewürdigt. Von der türkischen Regierung werden sie jedoch als Verschubmasse gesehen – wenn sie droht, Kritiker aus der EU zu bestrafen, indem sie ihnen die Flüchtlinge „schickt“, aber noch mehr, wenn sie ankündigt, die Flüchtlinge dorthin bringen zu wollen, wo nun Kurden vertrieben werden. Denn wenn die Türkei dort ihre Statthalter – die syrischen Milizen wollen belohnt sein – einsetzt, werden die Kurden nicht zurückkehren können. Heute nennt man das „demographic engineering“, früher Deportationspolitik. Unter den Augen eines hilflosen Europa.