Geschwächter Orbán
Kein EU-Staat schrumpft so schnell wie Bulgarien. Korruption, schlechte Löhne und eine Politik, die die Menschen vernachlässigt, treiben die Leute weg. Was sagen jene, die bleiben und das Land ein Stück lebenswerter machen?
Bei den landesweiten Kommunalwahlen entthronte die ungarische Opposition vielerorts Ministerpräsident Orbán.
Zehn Plastikteller stehen auf dem Tisch, auf jedem dieselbe Portion: Schweinefleischtaschen, Käsestrudel und fünf, sechs Wursträder, daneben steht bulgarischer Obstschnaps. Auf der einen Seite hängt hinter den älteren Frauen eine Tracht, auf der anderen scheint graues, trübes Licht durch die Rollläden. Heute Vormittag hängt der Nebel tief in den Bergen, in die das nordbulgarische 250-Seelen-Dorf Krapets eingebettet ist. Räume wie dieser machen, so schlicht sie sind, jene Flecken, von denen die meisten nur wegwollen, lebenswert für die, die bleiben.
Geschichten über Bulgarien folgen stets demselben Schema: Das Land ist alt und arm, hat seinen Bewohnern nichts zu bieten und schrumpft schneller als jeder andere EU-Staat. Tausende wandern jedes Jahr aus, die Sterberate übersteigt die der Geburten um Zigtausende. Und Hunderttausende gehen in andere Länder, um dort zu arbeiten.
Geschichten über Bulgarien können aber auch Geschichten über Frauen wie Elena Tsvetkova Vasileva sein. Mit einem Lächeln im dunklen, schmalen Gesicht schenkt die Bibliothekarin Schnaps nach, stöbert hier nach einer Bierflasche, dort nach Limonade. Sie wurde vor gut fünfzig Jahren in Krapets geboren, in einem Dorf, das man zu Fuß in wenigen Minuten durchquert hat. Ein Dorf, das nicht mehr bietet als eine Kirche, einen Supermarkt und zwei Kaffeehäuser. Seit die Brotfabrik zugesperrt hat, gibt es hier nicht mehr viele Jobs. Alte leben von der Hand in den Mund, die bulgarische Pension reicht oft nicht, um das Haus zu heizen.
Und doch ist Krapets eines der Dörfer, in denen die Welt noch halbwegs in Ordnung zu sein scheint. Ein Dorf, in dem zumindest die Bevölkerungszahl recht konstant bleibt, sagt Tsvetkova Vasileva. Weil es gut angebunden ist an zwei kleinere Städte, sagt sie. Vielleicht liegt es aber auch an Frauen wie Tsvetkova Vasileva, dass die Leute bleiben. Vor zehn Jahren, sagt sie – damals gab es hier nur Müll und Mäuse –, hat sie hier eine Bibliothek aufgebaut, die mehr ist als ein Ort, an dem man Bücher liest. Sie hat hier einen Platz geschaffen, an dem Alte zusammenkommen, an dem Kinder ins Internet gehen können und an dem 40 Stunden die Woche Tsvetkova Vasileva und ihre Bücher ein Zuhause bieten.
Zwei Millionen gingen
Krapets liegt in der Region Vratsa, einer der ärmsten in Bulgarien und die, die am zweithäufigsten verlassen wird. Aktuell leben etwa 165.000 Leute in der Region, 2012 waren es noch 185.000. In Nachbardörfern haben längst Schulen geschlossen. Seit 1990 ging ein Fünftel der Menschen, zurück blieben etwa sieben Millionen im Land. Die UN prognostiziert, dass bis 2050 nur noch gut fünf Millionen übrigbleiben.
Aus allen Gesellschaftsschichten gehen die Bulgaren in den Westen, seit das Land 2007 EUMitglied wurde. Sie arbeiten als ITler oder Ärzte, sie gehen auf den Bau und in die Pflege. Und sie treiben damit die Wirtschaft im Heimatland an. Daten der Weltbank zeigen, dass vergangenes Jahr über zwei Milliarden Euro von Auslandsbulgaren zurück ins Heimatland überwiesen wurden.
Petya Slavova forscht an der Universität Sofia über die Gründe, warum Menschen das Land verlassen. Endergebnisse werden im März vorliegen, schon jetzt aber sagt sie: „Beinahe alle Aktivitäten der Regierung konzentrieren sich auf die Ballungszentren. Niemand kümmert sich um die ländliche Gegend.“Doch Slavova beobachtete in den vergangenen Jahren eine Tendenz: Von den höher Gebildeten, die das Land verließen, kommen manche wieder. Schätzungen gehen von bis zu einem Drittel aus.
Sie selbst studierte in Belgien. Heute kämpft sie in Sofia auf ihre eigene Art darum, das Leben in Bulgarien lebenswerter zu machen. Zum Beispiel, indem sie protestiert. In Bulgarien herrscht keine breite Protestkultur, bei der Sofia Pride 2019 waren 6000 Menschen, während bei Wiener Regenbogenparaden hunderttausend durch die Straßen tanzen. Fridays for Future ist in Sofia zwar existent, aber nahezu unsichtbar. Ende Juli begannen die Bulgaren gegen den einzigen Kandidaten für den Posten des obersten Rechtsberaters der Regierung auf die Straße zu gehen. Er habe Verbindungen zur Mafia, sagen die Demonstranten. Slavova war bei einem der letzten Proteste gegen ihn dabei: „Wir waren 2000 Leute.“
Mit den Auswanderern gehen Humankapital und eine starke Zivilgesellschaft verloren. In einem Land, in dem für Wählerstimmen bezahlt wird – so sagt es jeder, den man fragt –, hat die Jugend längst aufgegeben, aufzustehen. Siebzehnjährige sagen, dass sie nicht wählen werden, sobald sie das dürfen, 27-Jährige schwadronieren von der Notwendigkeit einer blutigen Revolution. Die Wahlbeteiligung bei der heurigen Europawahl lag bei 32 Prozent.
Teil der Veränderung sein
Wie in vielen Gesellschaften, die mit Problemen kämpfen, wird auch in Bulgarien nach dem schwächsten Glied gesucht, auf das die Schuld abgewälzt werden kann. Hier sind es Roma. Laut Europarat sind zehn Prozent der Bulgaren Roma, viele der restlichen 90 Prozent stigmatisieren sie. Im Romaviertel von Sofia sieht man geschäftiges Treiben, Frauen, die Kinder am Gehsteig entlangtragen, und junge Männer, die Möbelstücke über die kaputten Straßen schleppen. Man sieht aber auch, dass die dortige Bevölkerung sich selbst überlassen wird. In der Roma-Community sind es vor allem die Männer, die ins Ausland gehen, sie landen in Westeuropa im besten Fall auf Baustellen, im schlechtesten Fall auf der Straße.
Gleich zu Beginn der Romasiedlung neben dem Westpark Sofias ist an der linken Straßenseite ein türkiser Wellblechzaun zu sehen. Dahinter führt der Weg in einen schmalen, langen Raum voll Spielzeug und dem Geruch von Paprika. Petya Mladenova leitet hier ein Zentrum, in dem jene Kinder betreut werden, um die sich die Eltern nicht kümmern können, weil zumindest ein Elternteil weg ist.
Ein Kind auf dem Schoß, eines im Bauch: Es ist ihre Familie, wegen der Mladenova hierbleibt – und Idealismus: „Wir können Teil der großen Veränderung sein, die wir so dringend brauchen“, sagt sie: „Wir müssen die gewöhnlichen Leute aufwecken, damit wir den Stillstand, den wir haben, beenden können.“Sie leistet ihren Beitrag, indem sie Kindern Bulgarisch beibringt und ihnen damit die Chance auf einen Job gibt.
Wenn Bulgarien versagt, sich um seine Bürger zu kümmern, und die EU wegsieht, wenn in einem Mitgliedsstaat Korruption und Armut alltäglich sind, dann sind es engagierte Einzelpersonen, die mit kleinen Schritten ihr Leben und das ihres Umfelds verbessern. Dann sind es Menschen wie Petya Slavova, Petya Mladenova und Elena Tsvetkova Vasileva, die Anteil daran haben, dass sich das Land nicht noch schneller leert.
100 Kilometer nördlich, hinter den Bergen, sitzt in Krapets Elena Tsvetkova Vasilev nun allein in dem Raum, in dem am Morgen noch alte Damen über Tellern mit Wurstresten angestoßen haben. Im Nebenraum sind 3700 Bücher in Regale gepfercht, die meisten von ihnen sind abgegriffen, die wenigsten lehrreich. Tsvetkova Vasileva trägt sie seit zehn Jahren zusammen, bei allen handelt es sich um Spenden. Viele holt sie zu Fuß ab, sie hat weder Auto noch Führerschein. Erst vor kurzem gewann die Bibliothek eine Ausschreibung, Tsvetkova Vasileva durfte eine Liste an das Bildungsministerium schicken, noch diesen Monat soll sie 100 Schulbücher bekommen. Tsvetkova Vasileva wird in zehn Jahren noch immer in Krapets sein, sagt sie. Und: „Krapets wird immer noch am Leben sein.“