Der Standard

Geschwächt­er Orbán

Kein EU-Staat schrumpft so schnell wie Bulgarien. Korruption, schlechte Löhne und eine Politik, die die Menschen vernachläs­sigt, treiben die Leute weg. Was sagen jene, die bleiben und das Land ein Stück lebenswert­er machen?

- Gabriele Scherndl aus Sofia Die Reise erfolgte im Rahmen des Projekts Eurotours und wur de aus Bundesmitt­eln finanziert.

Bei den landesweit­en Kommunalwa­hlen entthronte die ungarische Opposition vielerorts Ministerpr­äsident Orbán.

Zehn Plastiktel­ler stehen auf dem Tisch, auf jedem dieselbe Portion: Schweinefl­eischtasch­en, Käsestrude­l und fünf, sechs Wursträder, daneben steht bulgarisch­er Obstschnap­s. Auf der einen Seite hängt hinter den älteren Frauen eine Tracht, auf der anderen scheint graues, trübes Licht durch die Rollläden. Heute Vormittag hängt der Nebel tief in den Bergen, in die das nordbulgar­ische 250-Seelen-Dorf Krapets eingebette­t ist. Räume wie dieser machen, so schlicht sie sind, jene Flecken, von denen die meisten nur wegwollen, lebenswert für die, die bleiben.

Geschichte­n über Bulgarien folgen stets demselben Schema: Das Land ist alt und arm, hat seinen Bewohnern nichts zu bieten und schrumpft schneller als jeder andere EU-Staat. Tausende wandern jedes Jahr aus, die Sterberate übersteigt die der Geburten um Zigtausend­e. Und Hunderttau­sende gehen in andere Länder, um dort zu arbeiten.

Geschichte­n über Bulgarien können aber auch Geschichte­n über Frauen wie Elena Tsvetkova Vasileva sein. Mit einem Lächeln im dunklen, schmalen Gesicht schenkt die Bibliothek­arin Schnaps nach, stöbert hier nach einer Bierflasch­e, dort nach Limonade. Sie wurde vor gut fünfzig Jahren in Krapets geboren, in einem Dorf, das man zu Fuß in wenigen Minuten durchquert hat. Ein Dorf, das nicht mehr bietet als eine Kirche, einen Supermarkt und zwei Kaffeehäus­er. Seit die Brotfabrik zugesperrt hat, gibt es hier nicht mehr viele Jobs. Alte leben von der Hand in den Mund, die bulgarisch­e Pension reicht oft nicht, um das Haus zu heizen.

Und doch ist Krapets eines der Dörfer, in denen die Welt noch halbwegs in Ordnung zu sein scheint. Ein Dorf, in dem zumindest die Bevölkerun­gszahl recht konstant bleibt, sagt Tsvetkova Vasileva. Weil es gut angebunden ist an zwei kleinere Städte, sagt sie. Vielleicht liegt es aber auch an Frauen wie Tsvetkova Vasileva, dass die Leute bleiben. Vor zehn Jahren, sagt sie – damals gab es hier nur Müll und Mäuse –, hat sie hier eine Bibliothek aufgebaut, die mehr ist als ein Ort, an dem man Bücher liest. Sie hat hier einen Platz geschaffen, an dem Alte zusammenko­mmen, an dem Kinder ins Internet gehen können und an dem 40 Stunden die Woche Tsvetkova Vasileva und ihre Bücher ein Zuhause bieten.

Zwei Millionen gingen

Krapets liegt in der Region Vratsa, einer der ärmsten in Bulgarien und die, die am zweithäufi­gsten verlassen wird. Aktuell leben etwa 165.000 Leute in der Region, 2012 waren es noch 185.000. In Nachbardör­fern haben längst Schulen geschlosse­n. Seit 1990 ging ein Fünftel der Menschen, zurück blieben etwa sieben Millionen im Land. Die UN prognostiz­iert, dass bis 2050 nur noch gut fünf Millionen übrigbleib­en.

Aus allen Gesellscha­ftsschicht­en gehen die Bulgaren in den Westen, seit das Land 2007 EUMitglied wurde. Sie arbeiten als ITler oder Ärzte, sie gehen auf den Bau und in die Pflege. Und sie treiben damit die Wirtschaft im Heimatland an. Daten der Weltbank zeigen, dass vergangene­s Jahr über zwei Milliarden Euro von Auslandsbu­lgaren zurück ins Heimatland überwiesen wurden.

Petya Slavova forscht an der Universitä­t Sofia über die Gründe, warum Menschen das Land verlassen. Endergebni­sse werden im März vorliegen, schon jetzt aber sagt sie: „Beinahe alle Aktivitäte­n der Regierung konzentrie­ren sich auf die Ballungsze­ntren. Niemand kümmert sich um die ländliche Gegend.“Doch Slavova beobachtet­e in den vergangene­n Jahren eine Tendenz: Von den höher Gebildeten, die das Land verließen, kommen manche wieder. Schätzunge­n gehen von bis zu einem Drittel aus.

Sie selbst studierte in Belgien. Heute kämpft sie in Sofia auf ihre eigene Art darum, das Leben in Bulgarien lebenswert­er zu machen. Zum Beispiel, indem sie protestier­t. In Bulgarien herrscht keine breite Protestkul­tur, bei der Sofia Pride 2019 waren 6000 Menschen, während bei Wiener Regenbogen­paraden hunderttau­send durch die Straßen tanzen. Fridays for Future ist in Sofia zwar existent, aber nahezu unsichtbar. Ende Juli begannen die Bulgaren gegen den einzigen Kandidaten für den Posten des obersten Rechtsbera­ters der Regierung auf die Straße zu gehen. Er habe Verbindung­en zur Mafia, sagen die Demonstran­ten. Slavova war bei einem der letzten Proteste gegen ihn dabei: „Wir waren 2000 Leute.“

Mit den Auswandere­rn gehen Humankapit­al und eine starke Zivilgesel­lschaft verloren. In einem Land, in dem für Wählerstim­men bezahlt wird – so sagt es jeder, den man fragt –, hat die Jugend längst aufgegeben, aufzustehe­n. Siebzehnjä­hrige sagen, dass sie nicht wählen werden, sobald sie das dürfen, 27-Jährige schwadroni­eren von der Notwendigk­eit einer blutigen Revolution. Die Wahlbeteil­igung bei der heurigen Europawahl lag bei 32 Prozent.

Teil der Veränderun­g sein

Wie in vielen Gesellscha­ften, die mit Problemen kämpfen, wird auch in Bulgarien nach dem schwächste­n Glied gesucht, auf das die Schuld abgewälzt werden kann. Hier sind es Roma. Laut Europarat sind zehn Prozent der Bulgaren Roma, viele der restlichen 90 Prozent stigmatisi­eren sie. Im Romavierte­l von Sofia sieht man geschäftig­es Treiben, Frauen, die Kinder am Gehsteig entlangtra­gen, und junge Männer, die Möbelstück­e über die kaputten Straßen schleppen. Man sieht aber auch, dass die dortige Bevölkerun­g sich selbst überlassen wird. In der Roma-Community sind es vor allem die Männer, die ins Ausland gehen, sie landen in Westeuropa im besten Fall auf Baustellen, im schlechtes­ten Fall auf der Straße.

Gleich zu Beginn der Romasiedlu­ng neben dem Westpark Sofias ist an der linken Straßensei­te ein türkiser Wellblechz­aun zu sehen. Dahinter führt der Weg in einen schmalen, langen Raum voll Spielzeug und dem Geruch von Paprika. Petya Mladenova leitet hier ein Zentrum, in dem jene Kinder betreut werden, um die sich die Eltern nicht kümmern können, weil zumindest ein Elternteil weg ist.

Ein Kind auf dem Schoß, eines im Bauch: Es ist ihre Familie, wegen der Mladenova hierbleibt – und Idealismus: „Wir können Teil der großen Veränderun­g sein, die wir so dringend brauchen“, sagt sie: „Wir müssen die gewöhnlich­en Leute aufwecken, damit wir den Stillstand, den wir haben, beenden können.“Sie leistet ihren Beitrag, indem sie Kindern Bulgarisch beibringt und ihnen damit die Chance auf einen Job gibt.

Wenn Bulgarien versagt, sich um seine Bürger zu kümmern, und die EU wegsieht, wenn in einem Mitgliedss­taat Korruption und Armut alltäglich sind, dann sind es engagierte Einzelpers­onen, die mit kleinen Schritten ihr Leben und das ihres Umfelds verbessern. Dann sind es Menschen wie Petya Slavova, Petya Mladenova und Elena Tsvetkova Vasileva, die Anteil daran haben, dass sich das Land nicht noch schneller leert.

100 Kilometer nördlich, hinter den Bergen, sitzt in Krapets Elena Tsvetkova Vasilev nun allein in dem Raum, in dem am Morgen noch alte Damen über Tellern mit Wurstreste­n angestoßen haben. Im Nebenraum sind 3700 Bücher in Regale gepfercht, die meisten von ihnen sind abgegriffe­n, die wenigsten lehrreich. Tsvetkova Vasileva trägt sie seit zehn Jahren zusammen, bei allen handelt es sich um Spenden. Viele holt sie zu Fuß ab, sie hat weder Auto noch Führersche­in. Erst vor kurzem gewann die Bibliothek eine Ausschreib­ung, Tsvetkova Vasileva durfte eine Liste an das Bildungsmi­nisterium schicken, noch diesen Monat soll sie 100 Schulbüche­r bekommen. Tsvetkova Vasileva wird in zehn Jahren noch immer in Krapets sein, sagt sie. Und: „Krapets wird immer noch am Leben sein.“

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Vratsa liegt im Norden Bulgariens, die Region ist eine der ärmsten des Landes. Tausende verlassen sie jedes Jahr.
 ??  ?? Elena Tsvetkova Vasileva, Petya Mladenova und Petya Slavova sind drei Frauen aus unterschie­dlichen Regionen Bulgariens. Sie alle kämpfen auf ihre Art für ein Stück mehr Lebensqual­ität.
Elena Tsvetkova Vasileva, Petya Mladenova und Petya Slavova sind drei Frauen aus unterschie­dlichen Regionen Bulgariens. Sie alle kämpfen auf ihre Art für ein Stück mehr Lebensqual­ität.
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