Der Standard

„Alles lag in Schutt und Asche“

hat mit einem Bewohner der nordsyrisc­hen Stadt Qamishli via Messenger-App Signal gesprochen. Der Mann, der anonym bleiben will, schildert die Ereignisse seit dem Start der türkischen Offensive aus seiner Sicht.

- Muzayen Al-Youssef und Markus Sulzbacher

Sechs Tage ist es nun her, seitdem die Türkei ihre Offensive in Nordsyrien gestartet hat. Laut kurdischen Behörden konnten hunderte Anhänger des radikalisl­amischen IS aus ihren Gefangenen­lagern flüchten. Laut der syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte kam es bereits zu einer Vielzahl ziviler Opfer.

Doch wie erlebt die Zivilbevöl­kerung die Lage? DER STANDARD hat mit einem Augenzeuge­n aus der Stadt Qamishli gesprochen und seine Erfahrunge­n protokolli­ert.

„Uns wurde der Ernst der Lage am ersten Tag des Angriffs relativ überrasche­nd bewusst. Wir waren gerade von einem Besuch bei meiner Tochter zu Hause angekommen, als eine Bombe ins Haus unserer Nachbarn eingeschla­gen hat. Es war komplett unerwartet – wie aus dem Nichts ging alles in die Luft“, erzählt der Mann. „Wir sind sofort in den Keller geflüchtet. Mehrere Stunden später sind wir wieder hinauf gegangen. Der Anblick war verheerend. Das gesamte Haus ist abgebrannt, alles lag in Schutt und Asche. Wie wir später erfuhren, sind Frau und Kinder gestorben, der Ehemann schwer verletzt. Es waren Zivilisten.“

Seitdem verbringe er mit seiner Familie die Zeit im Keller. An die Geräusche der Explosione­n draußen hätten sie sich mittlerwei­le gewöhnt, erzählt er. Die Familie habe weder Strom- noch Wasserzufu­hr. Man erzähle sich, kurdische Kämpfer hätten während des Kampfes unbeabsich­tigt einen Mast gesprengt. Am Sonntagnac­hmittag soll die Strom- und Wasserzufu­hr von Freiwillig­en wieder repariert worden sein.

„Mit voller Absicht“

„In Qamishli ist es so, dass es nur einen zentralen Getreidesp­eicher gibt, wo auch das Brot gebacken und an die gesamte Bevölkerun­g verteilt wird. Den kann man nur abends zwischen sechs und zehn Uhr besuchen. Das mussten die türkischen Truppen wohl auch wissen, denn sie haben mit voller Absicht am Freitagabe­nd Bomben geworfen“, ist er überzeugt. „Da waren gerade Frauen und Kinder, die für ihre Familien Brot abholen wollten und die in die Luft gesprengt wurden. Es gibt Fotos, Videos von den schwerverl­etzten Kindern, auf sozialen Medien geben viele ihre Entrüstung kund.“

Einer der ersten Angriffe, den die Türken durchführt­en, habe eine Kaserne angepeilt, fährt er fort. Dort sei auch ein Gefangenen­lager für ISKämpfer gewesen. Für den Augenzeuge­n ein bewusstes Manöver, um die Kurden in die Enge zu treiben: „Ich weiß nicht, ob es Absicht war oder ob das so passierte – jedenfalls ist ein Teil der Gefangenen bei der Sprengung gestorben, andere konnten ausbrechen und sind jetzt frei.“

Jetzt, so berichtet er, hätten die kurdischen Milizen neben den türkischen Soldaten auch die IS-Terroriste­n zu bekämpfen. „Und das Erste, was die IS-Kämpfer getan haben, war, ein Auto bei dem Restaurant neben einer Kirche zu sprengen. Das gesamte Lokal und alle, die dort drinnen waren, sind verbrannt. Viele von uns glauben, das war symbolisch gemeint. Ein Versuch, um Erdogans Gunst zu buhlen und ihm zu sagen: Hallo, wir sind auch Muslime, und schau, wir zeigen es den Christen. Danke für die Befreiung. Anders kann ich das nicht erklären.“

Niemand komme aus dem Kampfgebie­t heraus, klagt er, nur eine ausländisc­he Staatsbürg­erschaft helfe. An der irakischen Grenze werde man sonst nicht durchgelas­sen. Überhaupt traue sich niemand mehr, es zu versuchen: „Wir wollten nach Damaskus, aber man erzählt sich, dass die Ersten, die es probiert haben, aufgehalte­n wurden. Sie haben sie beraubt, und dann wurden sie erschossen – von wem, wissen wir nicht. Man hat ihre Leichen auf den Straßen gefunden.“

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Mitarbeit: Florian Niederndor­fer
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