Grönländische Verhaltensforschung
Angesichts des Schwalls an seltsamen Meldungen, die der US-Präsident tagtäglich absondert, ist eine seiner haarsträubenderen Ideen womöglich schon wieder halb vergessen: Im Sommer wollte Donald Trump Grönland kaufen. Als sich die Dänen weigerten, ihr arktisches Territorium abzugeben, schmollte Trump wie ein Siebenjähriger und sagte prompt seinen Staatsbesuch ab.
Zu Dänemark gehört Grönland ganz offiziell seit 1933. Und just zu dieser Zeit befand sich der niederländische Zoologe und Verhaltensforscher Niko Tinbergen gemeinsam mit seiner Frau an der wenig erforschten Ostküste der größten Insel der Welt. Als die beiden im Juli 1932 aufbrachen, hatte Tinbergen mit 25 gerade seinen Doktor in Zoologie gemacht, seine Frau Lis war überhaupt erst 20. Die abenteuerliche Expedition, bei der aufwendige ornithologische Beobachtungen im Zentrum standen, war zugleich auch eine Art Hochzeitsreise, denn die beiden hatten unmittelbar vor der Abfahrt geheiratet.
Neben den Vogelbeobachtungen hat sich der spätere Verhaltensforscher, der 1973 gemeinsam mit seinem Freund Konrad Lorenz den Medizinnobelpreis erhalten sollte, Notizen über Land und Leute gemacht. Und 85 Jahre nach der niederländischen Originalausgabe liegt dieser prächtig illustrierte Bericht über Tinbergens insgesamt 14 Monate bei den ostgrönländischen Inuit nun erstmals unter dem Titel Eskimoland auch auf Deutsch vor.
Die damaligen Bewohner des ostgrönländischen Distrikts Ammassalik waren damals noch traditionell lebende Jäger, die sich ihr Überleben durch Fischfang, aber vor allem durch das Töten von Robben, Narwalen und Eisbären sicherten. Arbeitsteilung gab es bei diesen Menschen, die bis dahin nur wenig Kontakt mit der westlichen Zivilisation hatten, nur zwischen Männern und Frauen. Ansonsten machte jeder alles selbst, was dazu führte, dass die Gäste aus den Niederlanden zunächst als „unbeholfene Tölpel“wahrgenommen wurden, weil ihnen viele handwerkwerkliche Fähigkeiten fehlten.
Doch die Tinbergens lernten schnell – nicht nur die Sprache, sondern auch das Jagen oder die Eskimorolle, um bei einem eventuellen Kentern des Kajaks bei Minustemperaturen dem fast sicheren Tod zu entgehen. Und die Niederländer, die wenig Berührungsängste zeigten, freundeten sich auch mit der grönländischen Kulinarik an: Robben- und Eisbärenfleisch, Seeschwalbeneier, Schneehühner. Nur bei der vier Monate lang fermentierten Bartrobbe ekelte es den Gästen dann doch ein wenig.
Für Tinbergens spätere Karriere als Verhaltensforscher dürfte die Reise prägend gewesen sein, wie sein Schüler und Biograf Hans Kruuk vermutet: Tinbergens späteres Verhältnis zu Tieren war dank seiner Zeit als „Jäger“auf Grönland wenig sentimental. Zugleich machte ihn der Aufenthalt in der Arktis zu einem einfühlsamen Beobachter auch von menschlichem Verhalten – nachzulesen in einem wunderbaren Buch über den fremden Alltag in einer längst verschwundenen Kultur, in der die Menschen noch unbeschwert und glücklicher waren. Heute ist die Suizidrate der Grönländer die höchste der Welt. (tasch)
Niko Tinbergen, „Eskimoland. Ein Bericht aus der Arktis“. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse und Ulrich Faure. € 22,70 / 240 Seiten. C. H. Beck, München 2019