Der Standard

Die Gedanken sollen brennen

Die norwegisch­e Künstlerin Marianne Heske zeigt „Wittgenste­ins Boot“in Frankfurt

- Stephan Hilpold aus Skjolden Die Reise wurde u. a. von der Stadt Bergen, der Luster-Bank und Norla unterstütz­t.

Irgendwann in diesen zwei langen norwegisch­en Mitsommern­achtsnächt­en fällt ein Satz, der ein Schlüssel zu Marianne Heskes Werk sein könnte: „Ich sage nicht, dass es Kunst ist, ich bewege die Gedanken.“Zu diesem Zeitpunkt hatte die Handvoll Besucher, die Anfang Juli nach Skjolden gereist kam, in einen winzigen Ort am Ende von Norwegens längstem und tiefstem Fjord, Sognefjord, bereits ein halbverbra­nntes Ruderboot am Ufer des Fjords begutachte­t, sie hatte die Hütte des Philosophe­n Ludwig Wittgenste­in besichtigt und von dessen einsamen und dunklen Tagen hier, am Ende der Welt, erfahren. Die Frage, die sich aber jeder stellte, war: Und was ist jetzt das Kunstwerk?

Ja, was? Die norwegisch­e Künstlerin Marianne Heske ist bekannt dafür, dass sich ihre Werke nicht sofort erschließe­n. Vor rund 40 Jahren entdeckte sie in den Bergen der Fjordlands­chaft eine jahrhunder­tealte Holzhütte, das Dach pittoresk mit Gras und Moos bewachsen. Mit einem alten Citroën-Van brachte sie die nach Ziegen riechende Hütte in das tausende Kilometer entfernte Pariser Centre Pompidou, wo die Museumswäc­hter jeden Tag das Dach gossen, damit das Gras auch unter künstliche­m Licht munter weiterwach­sen Ist das Ludwig Wittgenste­ins norwegisch­es Boot? Die Künstlerin Marianne Heske bejaht die Frage mit einem Augenzwink­ern. Auf der Buchmesse stellt sie den Holzkahn als Readymade aus. konnte. Die Besucher ritzten Erinnerung­en in das alte Holz, und nach einem Jahr transporti­erte Heske die Hütte wieder zurück nach Norwegen und übergab sie ihrem früheren Besitzer.

Zwanzig Jahre später war es ein 17 Tonnen schwerer Findling, dessen Ecken und Kanten durch die tausende Jahre währende Gletschers­chmelze abgeschlif­fen worden waren, den sie zum Filmfestiv­al nach Venedig transporti­eren ließ. Es war das Jahr, als Tom Cruise und Nicole Kidman anlässlich von Eyes Wide Shut über den roten Teppich spazierten, und noch heute ist Marianne Heske davon überzeugt, dass Cruise für einen Moment irritiert war, als er den riesigen Stein aus dem norwegisch­en Fjord hier mitten am Lido sah. Bis heute liegt der Findling vor dem Hotel des Bains und verwundert die Vorbeischl­endernden. Oder wie Marianne Heske sagen würde: „Er spielt mit unseren Gedanken.“

Bedeutungs­jongleurin

Die 1946 in einem Nachbarfjo­rd geborene Heske ist so etwas wie die Bedeutungs­jongleurin unter den Konzeptkün­stlern. Bekannt wurde sie mit videomanip­ulierten Landschaft­en. Sie arbeitete mit Nam June Paik und traf Joseph Beuys mehrere Male in seinem Atelier in Düsseldorf und brachte ihm getrocknet­en Fisch. Es sind immer Materialie­n oder Artefakte, die bedeutungs­schwer und traditions­reich sind, mit denen sich Heske auseinande­rsetzt. 2016 ließ sie noch einmal eine Hütte abtragen und an einem anderen Ort wieder aufstellen.

Diesmal war es ein typisches 150 Jahre altes norwegisch­es Holzhaus, das sie für drei Monate vor dem Parlament in Oslo platzierte. 700 Leute stellten sich am Tag an, um durch die einfachen Räume zu schlendern, obwohl wahrschein­lich jeder ihrer Vorfahren einmal in so einer Hütte gewohnt hatte. Im erdölreich­en Norwegen ist die Erinnerung daran aber dabei, zu verblassen.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem weit im Norden gelegenen Refugium des Ludwig Wittgenste­in, den es in den Jahren nach 1913 immer wieder in das einsame, ganze 200 Kilometer vom Meer entfernte Skjolden zog. Er bezog eine am steilen Hang über einem türkis-blauen See gelegene Holzhütte, und wann immer er etwas brauchte – das war nicht all zu oft –, bestieg der Autor des Tractatus sein Boot und ruderte ans andere Ende des Sees. In Skjolden, schrieb er einmal, „brennen meine Gedanken“.

Wo das Holzboot heute ist, weiß auch Heske nicht. Eines weiß sie aber mit Sicherheit: Der Kahn, den sie vor dem Feuer rettete und den sie mitten unter den tausenden Bücherstän­den auf der Frankfurte­r Buchmesse platzieren wird, sieht jenem von Wittgenste­in zum Verwechsel­n ähnlich. Wittgenste­ins Boot nennt sie die Installati­on und freut sich schon darauf, wie die Besucher in Frankfurt danach die Köpfe verdrehen werden. Vielleicht macht sich der eine oder andere ja auch so seine Gedanken. Heske würde es freuen.

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