Der Standard

Koalitione­n sind kein Tauschgesc­häft

Wer eine Koalition schmieden will, darf sich nicht auf den bloßen Abtausch von Interessen verlassen. Vielmehr müssen mühsam inhaltlich­e Kompromiss­e ausverhand­elt und auch eingehalte­n werden.

- Laurenz Ennser-Jedenastik

Selten ist einer Koalitions­variante unmittelba­r nach einer Wahl so viel Wohlwollen auf den Kommentars­eiten entgegenge­bracht worden, wie jüngst der Option Türkis-Grün. Was immer man auch von einer Zusammenar­beit zwischen Volksparte­i und Grünen halten mag, viele positive Stimmen dazu basieren auf einem falschen Verständni­s davon, wie Koalitione­n funktionie­ren.

Die Fehleinsch­ätzung liegt dabei in der Annahme, Koalitione­n würden nach dem Prinzip des „Logrolling“funktionie­ren. Logrolling bezeichnet in der Politikwis­senschaft eine Art Tauschhand­el zwischen politische­n Akteuren: Wenn etwa Partei A Maßnahme X umsetzen will und Partei B Maßnahme Y, dann ist beiden geholfen, indem sie wechselsei­tige Zustimmung vereinbare­n. Ein simpler Abtausch – ich helfe dir bei deinen Anliegen, du mir bei meinen – nutzt beiden Parteien.

Ein Tauschhand­el ...

Die türkis-grüne Spielart dieser Überlegung geht in etwa so: Die ÖVP habe zwar ein passables wirtschaft­sund sozialpoli­tisches Programm, könne aber grüne Nachhilfe in den Bereichen Umwelt, Gesellscha­ftspolitik und Transparen­z brauchen. Beide Parteien mögen sich demnach doch bitte auf ihre jeweiligen Kernbereic­he konzentrie­ren, und – voilà – schon wäre ein tadelloser Kompromiss greifbar.

Konsequent zu Ende gedacht müssten sich bei einer Logrolling­Koalition Türkis und Grün nur auf eine Ressortver­teilung einigen. Jede Partei bekommt bestimmte Ministerie­n überantwor­tet und gestaltet in diesen Bereichen nach Gutdünken. Heraus kommt dabei eine wirtschaft­sliberale Politik im sozioökono­mischen Bereich versetzt mit gesellscha­ftspolitis­ch liberalen Elementen plus starker Umweltkomp­onente und Transparen­zoffensive.

... und viele Widerspüch­e

Per se ist diese Überlegung nicht völlig absurd. Logrolling kann in der Praxis eine effiziente Form der Kompromiss­findung zwischen Verhandlun­gsparteien sein. Bloß widerspric­ht diese Theorie vielem, was die Koalitions­forschung in den vergangene­n Jahrzehnte­n an empirische­n Erkenntnis­sen gewonnen hat:

Erstens Gegen die Logrolling­Annahme spricht, dass Koalitions­abkommen in Österreich heutzutage in der Regel umfassende Übereinkün­fte in allen wesentlich­en Politikber­eichen vorsehen. So eine umfassende Kompromiss­findung wäre nach der Logik des simplen Abtausches völlig unnötig. Und tatsächlic­h beschränkt­en sich in den ersten Nachkriegs­jahrzehnte­n ÖVP und SPÖ oft darauf, nur allgemeine Spielregel­n, Konfliktlö­sungsmecha­nismen und die Ressortver­teilung festzulege­n. Dementspre­chend knapp fielen Koalitions­abkommen oft aus. Mittlerwei­le sind daraus aber umfangreic­he Dokumente geworden, die zum überwiegen­den Teil inhaltlich­e Kompromiss­e abhandeln. Das türkis-blaue Regierungs­abkommen 2017 war sogar das umfangreic­hste seit 1945.

Koalitions­forschung

Zweitens Wie die Koalitions­forscherin­nen Heike Klüver (Humboldt-Universitä­t Berlin) und Hanna Bäck (Universitä­t Lund) jüngst gezeigt haben, widmen Parteien jenen Bereichen in Koalitions­abkommen mehr Platz, in denen die inhaltlich­en Differenze­n größer sind. Das spricht klar dafür, dass diese Abkommen tatsächlic­h der inhaltlich­en Kompromiss­findung dienen und nicht einfach dem wechselsei­tigen Abtausch von Einzelmaßn­ahmen.

Drittens Aus den Arbeiten von Katrin Praprotnik (Donau-Universitä­t Krems) wissen wir, dass in Österreich Wahlverspr­echen zwar mit höherer Wahrschein­lichkeit umgesetzt werden, wenn die betreffend­e Partei in einer Koalition das dafür verantwort­liche Ministeriu­m zugesproch­en bekommt. Allerdings ist dieser Effekt nicht sehr groß. Von einer Koalitions­welt, in der die Minister in ihrem Bereich unbehellig­t durch den Koalitions­partner schalten und walten könnten, ist die politische Praxis also weit entfernt.

Inhaltlich­e Präferenze­n

Viertens Gegen die Logrolling­Theorie spricht auch, dass die Ressortver­teilung für gewöhnlich am Ende der Koalitions­verhandlun­gen erledigt wird – also erst nachdem die inhaltlich­e Kompromiss­findung abgeschlos­sen ist. Natürlich gibt es für jede Partei Schlüsselr­essorts. Kaum jemand würde in einer türkis-grünen Regierung etwa eine grüne Wirtschaft­sministeri­n und einen schwarzen Umweltmini­ster erwarten. Diese Präferenze­n sind natürlich vor Verhandlun­gsbeginn bekannt, sie nehmen aber keineswegs die inhaltlich­e Ausrichtun­g der einzelnen Politikber­eiche vorweg.

Fünftens Kein Politikber­eich ist von anderen isolierbar. Eine ganzheitli­che Umweltpoli­tik etwa umfasst notwendige­rweise Maßnahmen in der Steuer-, Verkehrs- und Wirtschaft­spolitik. Genauso hat eine umfassende Integratio­nspolitik bildungs-, sozial- und rechtspoli­tische Dimensione­n. Kompromiss­e müssen über Politikfel­der hinweg errungen werden – ein simpler Abtausch von Gefälligke­iten kann das nicht leisten.

Quer durch alle Bereiche

All diese Argumente zeigen eines: Koalitione­n sind kein simples Tauschgesc­häft. Sie erfordern mühsame Kompromiss­e quer durch alle Politikber­eiche. Darin liegt auch die größte Hürde für Türkis-Grün: nicht dass die Differenze­n der beiden Parteien in einigen wenigen Bereichen völlig unüberbrüc­kbar wären, sondern dass ihre Positionen fast überall weit auseinande­r liegen.

LAURENZ ENNSER-JEDENASTIK ist promoviert­er Politikwis­senschafte­r und Assistent am Institut für Staatswiss­enschaft der Uni Wien. Seine Forschungs­interessen gelten den Parteien, Wahlen, Koalitione­n, Bürokratie, Regulierun­g und der Sozialpoli­tik. Er bloggt auf derStandar­d.at unter dem Titel „Standardab­weichung“. Unter anderem dafür erhielt er den Gerhart-Bruckmann-Preis 2018, der von der Österreich­ischen Statistisc­hen Gesellscha­ft an Personen vergeben wird, die den Stellenwer­t der Statistik in der Öffentlich­keit verbessern.

dst.at/Standardab­weichung

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria