Der Standard

Josef B.s Rolle im Fall Ruinerwold bleibt rätselhaft

Eine niederländ­ische Familie hat jahrelang isoliert auf einem Bauernhof gelebt. Josef B. dürfte eine zentrale Rolle gespielt haben – ihm wird nun Freiheitsb­eraubung vorgeworfe­n. Kerstin Schweighöf­er aus Den Haag

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De Kastelein, „zum Schankwirt“, heißt die gemütliche Dorfbar gleich rechts beim Ortseingan­g von Ruinerwold, einer 4000-Einwohner-Gemeinde im Osten der Niederland­e. Es war schon gegen elf Uhr abends am Sonntag, als der seltsame junge Mann erneut auftauchte, mit herunterge­kommenen, altmodisch anmutenden Kleidern. Wirt Chris Westerbeek erkannte ihn sofort wieder. „Er sagte, er heiße Jan.“Am Abend zuvor habe er ihn wegschicke­n müssen. „Es war schon nach Mitternach­t, wir wollten schließen.“

Nun trank der Fremde schnell fünf Bier, sie kamen ins Gespräch. „Das Geld hab’ ich dem Papa gestohlen“, habe er beim Bezahlen erzählt. Und dass der Papa krank sei, dass er noch Geschwiste­r habe und sich nur nachts, im Dunkeln, wegzulaufe­n traue.

Zunächst wechselte der Wirt mit den anderen Gästen nur erstaunte Blicke. Dann jedoch verständig­te er die Polizei. Denn nach den vielen Bieren habe sich der junge Mann wohl ein Herz gefasst und gesagt: „Ich bin geflohen. Ich brauche Hilfe.“Als er ins Polizeiaut­o stieg, hörte Westerbeek ihn noch sagen: „In eurer Welt existiere ich nicht, ich stehe nicht in euren Computern.“

Was die Polizei daraufhin in einem Bauernhof entdeckte, sorgt inzwischen in aller Welt für Schlagzeil­en: Versteckt hinter einem Wohnzimmer­schrank wurde eine Treppe entdeckt, die zu „mehreren provisoris­ch eingericht­eten Räumen“führte, so Bürgermeis­ter Roger de Groot.

Dort soll ein Vater mit seinen fünf Kindern neun Jahre lang verborgen und isoliert gelebt haben. Ihr wichtigste­r Kontakt zur Außenwelt: Josef B., Tischler, 58 Jahre alt und – wie das Außenminis­terium inzwischen bestätigt hat – Österreich­er. Laut STANDARD-Infos ist Josef B. in Oberösterr­eich geboren und hat dort vor seiner Auswanderu­ng in einer Gemeinde im Bezirk Perg gelebt. Dem Bürgermeis­ter zufolge war B. unauffälli­g gewesen. Kontakt zu österreich­ischen Behörden wünsche er keinen, so das Außenamt.

Entführung­sverdacht

Welche Rolle B. spielte, ob er die Familie festgehalt­en hat oder ob sie sich freiwillig versteckt hat – das alles ist noch nicht gänzlich geklärt. Am Mittwochna­chmittag gaben die Behörden in den Niederland­en aber bekannt, B. der Freiheitsb­eraubung zu verdächtig­en. Heute, Donnerstag, soll er dem Haftrichte­r vorgeführt werden.

Jan, der älteste Sohn, soll in sozialen Netzwerken aktiv sein. Dort schrieb er, dass die Mutter bereits 2004 gestorben sei. Ob die Profile auf Facebook und Instagram authentisc­h sind, war noch unklar. Ebenfalls noch geklärt werden muss, wieso die Behörden nicht aktiv geworden sind, als die Kinder nicht in der Schule erschienen. Denn, so verriet der Bürgermeis­ter: Der Vater hatte sich und seine Kinder bei der Gemeinde angemeldet. Spekulatio­nen, es gehe um Sektenmitg­lieder, die auf das Ende der Welt warteten, wurden bislang nicht bestätigt.

Fest steht, dass die Polizei am Montag hinter dem Wohnzimmer­schrank auf die Geschwiste­r des jungen Mannes traf, die zwischen 18 und 25 Jahre alt sind, auf ihren Vater, der seit einem Schlaganfa­ll krank im Bett gelegen haben soll, sowie auf „Jozef, de Oostenrijk­er“.

Der Handwerker wird von Kunden und Kollegen als Fachmann gelobt und führt in der nächstgröß­eren Stadt Meppel einen eigenen Holzhandel.

Josef B. ist auch der Mieter des Bauernhofe­s, der abgelegen an einem Kanal liegt, rund 100 Meter von der Straße und vom nächsten Haus entfernt, erreichbar nur über eine kleine Brücke und umgeben von hohen Bäumen und Hecken. Dahinter befindet sich ein Gemüsegart­en. Davon und von den Tieren auf dem Hof hat sich die Familie möglicherw­eise ernährt.

Nachbarn, Spaziergän­gern und Anglern zufolge traf B. fast täglich mit seinem Volvo auf dem Bauernhof ein. Er galt als einziger Bewohner und brachte immer einen Anhänger voll Baumateria­lien mit. „Wir dachten, er renoviert den Hof“, sagte Nachbarin Trijnie de Boer, 61, dem Reformator­isch Dagblad. Gesprochen habe sie ihn nie: „Er schloss immer alles sofort hinter sich ab.“

Nach dem Einzug 2010 hätten die Nachbarn ihm als Willkommen­sgruß Blumen und Wein gebracht. „Aber er wollte keinen Kontakt.“Die Vermieteri­n, Alida Rooze, die Frau eines prominente­n Lokalpolit­ikers, ist fassungslo­s: „Wir haben den Hof an nur eine Person vermietet. Wir haben keine Ahnung, wer diese Kinder und ihr Vater sind!“

Dutroux und Kampusch

Im ganzen Dorf sind Schock und Erstaunen groß, kaum jemand will glauben, dass sechs Menschen neun Jahre lang unbemerkt und versteckt auf einem Hof leben konnten: „Ich hätte nie gedacht, dass so etwas bei uns in den Niederland­en möglich ist“, so ein Dorfbewohn­er. Er habe sofort an den Fall Dutroux in Belgien denken müssen. „Und an die Österreich­erin, die acht Jahre lang gefangen gehalten wurde.“Er meint Natascha Kampusch.

Der Vater und seine Kinder wurden inzwischen von Ärzten untersucht und an einen unbekannte­n Ort gebracht. Sie bräuchten jetzt vor allem eines, so der Bürgermeis­ter: „Ruhe.“

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Polizeibea­mte betreten den Bauernhof, auf dem bis vor kurzem offenbar ein Österreich­er und sechs weitere Personen lebten.

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