Der Standard

Herzschlag­finale im Brexit-Poker

Nicht nur zwischen London und den EU-27 wurde bis zuletzt hart verhandelt. Der britische Premier Boris Johnson wollte auch die Nordiren an Bord holen. Dabei könnte eine Milliarden­summe im Spiel sein.

- Sebastian Borger aus London

In der ebenso hektischen wie hoffnungsv­ollen Brexit-Endzeitsti­mmung wiederholt­en sich am Mittwoch in London und Brüssel Vorgänge aus den vergangene­n beiden Jahren. Wie damals seine Vorgängeri­n Theresa May verbrachte auch der amtierende Premier Boris Johnson viel Zeit mit den Abgesandte­n der nordirisch­en Unionisten­partei DUP. Deren Zustimmung zu einer Vereinbaru­ng mit Brüssel, so scheint es, hängt von der Zahlung einer erhebliche­n Milliarden­summe ab. In Brüssel wollte am Mittwochab­end Chefunterh­ändler Michel Barnier seine Einschätzu­ng vor dem EU-Gipfel abgeben, der heute, Donnerstag, beginnt.

Alle Beteiligte­n stehen unter großem Zeitdruck, weil der britische EU-Austritt zum Monatsende erfolgen soll. Allerdings sprechen immer mehr Experten davon, das Datum werde auch dann nicht einzuhalte­n sein, wenn es in Brüssel zur Einigung kommt. Das liegt daran, dass im Unterhaus eine Reihe technische­r Gesetze verabschie­det werden müssten, um die Rechtssich­erheit auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s zu gewährleis­ten. Premier Johnson aber hat das Land auf den 31. Oktober eingeschwo­ren. Eine kurzzeitig­e Verlängeru­ng um höchstens drei Monate „könnte er vielleicht gerade noch als technische Verlängeru­ng verkaufen“, glaubt Professor Tim Bale von der Londoner QueenMary-Universitä­t.

Umstritten­e Rolle des EuGH

Zuvor aber muss die Einigung mit Brüssel gelingen. Weil die Beteiligte­n zunächst Stillschwe­igen verabredet hatten, beschränkt­en sich versierte Experten in London am Mittwochna­chmittag auf kluge Mutmaßunge­n. Allem Anschein nach werde der erste Teil des Austrittsa­bkommens weitgehend unversehrt bleiben, glaubt Professori­n Catherine Barnard von der Uni Cambridge. Darin geht es um die Zahlungen des Königreich­s in die Gemeinscha­ftskasse; der vor Jahresfris­t gehandelte Betrag von netto 39 Milliarden Euro dürfte durch die seither geleistete­n „normalen“Mitgliedsb­eiträge geschrumpf­t sein.

Als wenig kontrovers gelten auch die Regelungen zur Übergangsp­hase bis Ende 2020 sowie zur rechtliche­n Situation der mehr als 3,5 Millionen EU-Bürger, die teilweise seit Jahrzehnte­n auf der Insel leben. Höchstens die Passagen, die in Konfliktfä­llen noch für mehrere Jahre dem Europäisch­en Gerichtsho­f bestimmte Kompetenze­n einräumen, könnten unter eingeschwo­renen Brexiteers erneut für Aufregung sorgen.

Deren Zustimmung dürfte aber weitgehend davon abhängen, wie das neue Abkommen die zukünftige verfassung­spolitisch­e Stellung Nordirland­s regelt. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die britische Provinz zwar de jure mit dem Rest des Königreich­s aus der EU-Zollunion austritt, de facto aber in einem Zollverein mit der Republik im Süden und damit auch der EU verbleibt.

Blick auf die Parlamente

Die beteiligte­n Regierungs­chefs gaben sich optimistis­ch. Nach einem zehnminüti­gen Telefonat mit Johnson sprach Irlands Premiermin­ister Leo Varadkar davon, ein Deal sei noch am Mittwoch machbar. Die Vereinbaru­ng könne dann vom Europäisch­en Rat ratifizier­t werden, um den Weg für Abstimmung­en im EU-Parlament und im britischen Unterhaus freizumach­en. Allerdings ließ Varadkar die Möglichkei­t offen, dass es wegen der Komplexitä­t der Thematik einen weiteren Brexit-Gipfel in diesem Monat geben werde.

In London konzentrie­rt sich die Debatte auf das Abstimmung­sverhalten im Unterhaus. Zwar ist das Überleben von Johnsons Minderheit­sregierung nicht mehr von den zehn DUP-Abgeordnet­en im Unterhaus abhängig, weil er auch 21 Liberalkon­servative aus der eigenen Fraktion geworfen hat. Die Einschätzu­ng der nordirisch­en Unionisten beeinfluss­t aber die Haltung der Brexit-Hardliner in der Tory-Fraktion. Viele dort dürften Johnson folgen, sobald dieser die DUP an Bord gebracht hat. Helfen könnte dabei die Drohung, man werde mit den Brexit-Ultras verfahren wie mit den Liberalkon­servativen: Wer nicht spurt, fliegt aus der Fraktion und darf bei der kommenden Wahl nicht mehr als Konservati­ver antreten.

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Für viele Brexit-Fans käme ein Nachgeben Londons in der Irland-Frage einer Kapitulati­on gleich.

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