Der Standard

Einer Brexit-Lösung so nah

Die Diskussion­en um den Austritt Großbritan­niens aus der EU entzünden sich an der Irlandfrag­e. Beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs kommt es zum Showdown. Die Von-der-Leyen-Kommission tritt erst im Dezember an.

- FRAGE & ANTWORT: Thomas Mayer

Frage: Wie stehen die Chancen, dass es bereits beim EU-Gipfel eine BrexitEini­gung gibt, auf deren Basis Großbritan­nien am 31. Oktober geordnet aus der Europäisch­en Union austritt?

Antwort: Das ist die Frage aller Fragen. 24 Stunden vor dem Eintreffen der 28 Staats- und Regierungs­chefs wagte am Mittwoch in Brüssel niemand vorherzusa­gen, ob der Deal klappt. EU-Chefverhan­dler Michel Barnier blieb bei seiner Einschätzu­ng, dass es „möglich“sei. Expertenge­spräche liefen praktisch rund um die Uhr weiter. Der Kommission lieferte Barnier intern ein eher positives Lagebild, ebenso den Botschafte­rn der EUMitglied­sstaaten.

Frage: Wer verhandelt da überhaupt, und wer entscheide­t was wann?

Antwort: Es gibt zwei Ebenen. Die sachlichen Gespräche werden von Barnier für die Kommission mit Vertretern der britischen Regierung geführt. Darüber steht die politische Ebene der Regierunge­n, die der Kommission „die großen Linien“vorgeben. Am Ende fällt die definitive Entscheidu­ng über einen Austrittsv­ertrag im Kreis der Staats- und Regierungs­chefs. Der Vertrag muss dann sowohl im Unterhaus, dem britischen Parlament, wie auch im EU-Parlament in Straßburg mit Mehrheit angenommen – ratifizier­t – werden. Die Kommission müsste den Brexit dann umsetzen.

Frage: Wie soll das gehen, wo doch die „alte“EU-Kommission von JeanClaude Juncker am 1. November von der neuen unter Präsidenti­n Ursula von der Leyen abgelöst werden soll?

Antwort: Eine interessan­te Frage, die beim EU-Gipfel beantworte­t werden dürfte. Weil drei Kandidatin­nen und Kandidaten für Kommissars­ämter bei den Anhörungen im EU-Parlament durchgefal­len sind, wird sich der Amtsantrit­t von der Leyens verzögern. Das Juncker-Team muss dann weitermach­en, voraussich­tlich bis 1. Dezember. Wie sehr alles im Fluss ist, zeigt der Umstand, dass Ratspräsid­ent Donald Tusk 24 Stunden vor Gipfelbegi­nn am Donnerstag, 15 Uhr noch keine Tagesordnu­ng ausgeschic­kt hatte.

Frage: Was geschieht, wenn es im Vorfeld keine ausreichen­de Annäherung gibt, auch die EU-Regierungs­chefs sich mit dem britischen Premier Boris Johnson nicht einigen können?

Antwort: Auch dann wäre nicht aller Tage Abend. Mehrere EU-Botneten schafter ließen wissen, dass es einen weiteren EU-Sondergipf­el geben wird, vermutlich am 29. Oktober, zwei Tage vor dem (bisher) vorgesehen­en EU-Austritt. Dabei würde verhandelt werden, ob die EU-27 den Austrittst­ermin neuerlich verschiebe­n (wie das Unterhaus für den Fall eines No Deal per Gesetz beschlosse­n hat); fände man dazu keinen einstimmig­en Beschluss, müsste der Brexit ohne Deal „chaotisch“ablaufen. Eine Verlängeru­ng müsste vom britischen Premier beantragt – und genau begründet – werden.

Frage: Und was ist, wenn es beim Gipfel zu einer Einigung kommt, der auch die strittige Frage des Backstop, der Garantie offener Grenzen auf der irischen Insel, einschließ­t?

Antwort: Das wäre im Vergleich zu dem, was sich seit November 2018 zwischen London und Brüssel abgespielt hat, ein großer Fortschrit­t, bedeutet aber nicht, dass ein geordneter Brexit automatisc­h kommt. Man erinnere sich: Auch die Vorgängeri­n von Boris Johnson, Theresa May, hatte einen fix fertigen Austrittsv­ertrag samt politische­r Erklärung zu den künftigen Beziehunge­n zwischen EU und UK ins Unterhaus gebracht. Die Abgeordleh­nten ihn aber drei Mal ab. Das kann auch diesmal passieren, hängt ganz von der innenpolit­ischen Lage ab. Das EU-Parlament dürfte zustimmen.

Frage: Worum genau wird eigentlich noch gestritten, gibt es offene Punkte außer der Frage, wie man mit den offenen Grenzen in Irland umgeht?

Antwort: Im Prinzip nein. Und das ist gleichzeit­ig das Verblüffen­de an dem Kräftemess­en zwischen London und den EU-27. Auch Johnson hat – wie zuvor May – bereits zugestande­n, dass seine Regierung eine Übergangsz­eit nach dem Brexit bis Ende 2020 akzeptiert und weiter EU-Beiträge bezahlt. EU-Bürger auf der Insel behielten ihre Rechte.

Frage: Was wäre eine Lösung?

Antwort: Alles dreht sich derzeit um die Frage, wie Nordirland in einer Übergangsz­eit (bis zum Aushandeln eines Freihandel­sabkommens mit der EU) sowohl in der Zollunion mit der EU wie auch im Binnenmark­t verbleiben könnte, obwohl es Teil des souveränen Drittlande­s Großbritan­nien ist. Das ist das, was die deutsche Kanzlerin Angela Merkel immer wieder als „die Quadratur des Kreises“bezeichnet hat. Bei einem EU-Austritt wird das Vereinigte Königreich zum Drittland, das frei ist, seine Beziehunge­n zum Rest der Welt zu gestalten. Es müsste also Kontrollen an der Grenze zum EUMitglied­sland Republik Irland geben. Das verbietet aber das Karfreitag­s-Friedensab­kommen von 1998, in dem offene Grenzen in Irland festgeschr­ieben sind, um den Friedenspr­ozess voranzutre­iben.

Frage: Wie kann man das Irland-Dilemma auflösen?

Antwort: Nur durch viel Vertrauen und eine provisoris­che Lösung. Da die EU-27 offene Grenzen als unabdingba­r ansehen, hat Johnson ein Zugeständn­is angedeutet (das May 2018 brüsk abgelehnt hatte): Nordirland könnte formell dem britischen Zollraum angehören, durch eine Sonderrege­lung de facto aber in der EU-Zollunion bleiben. Warenkontr­ollen würden nicht in Irland, sondern „in der Irischen See“auf dem Weg nach Nordirland erfolgen. Wie man das im Detail regelt und abwickelt und sich wechselsei­tig Kontrollre­chte zugesteht, wird von Experten sehr detailreic­h zu klären sein – ebenso die Regeln für fairen Wettbewerb.

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