Der Standard

Junge Tunesier wählten den Rückschrit­t

Tunesien hat einen neuen Präsidente­n. Der Hardliner Kaïs Saïed ist der Hoffnungst­räger der Jugendlich­en. Er muss nun für seine Pläne Partner im fragmentie­rten Parlament finden. Eine schwierige Mission.

- Sofian Philip Naceur

Bilder von jubelnden Menschenma­ssen sah man in Tunesien in den vergangene­n Jahren höchstens nach wichtigen Fußballspi­elen, keineswegs aber bei politische­n Großereign­issen. Bis letzten Sonntag. Denn der Erdrutschs­ieg des Verfassung­srechtlers Kaïs Saïed in der Stichwahl um das Präsidente­namt trieb noch am Wahlabend tausende junge Menschen auf die Straßen von Tunis. Stundenlan­g und lautstark feierten sie dessen Einzug in den Präsidente­npalast von Karthago im Norden der Hauptstadt.

Ob er wirklich in den pompösen Palast übersiedel­n wird, ist unklar. Denn der bescheiden auftretend­e Saïed hatte im Wahlkampf angekündig­t, im Falle eines Wahlsieges zu Hause wohnen zu bleiben. Solche und ähnliche Ankündigun­gen waren es, die dem dröge daherkomme­nden parteilose­n Juristen scharenwei­se Wähler in die Arme trieben.

Tunesiens überwiegen­d junge Bevölkerun­g hatte genug von ausufernde­r Korruption, leeren Wahlverspr­echen und nicht enden wollenden parteipoli­tischen Querelen. Als etabliert geltende Parteien hatten in der letzten Legislatur­periode ihr eigenes Grab geschaufel­t, zeigten sie sich doch unfähig, sich der sozialen Schieflage und Perspektiv­losigkeit der Jugend anzunehmen. Stattdesse­n verloren sie sich in endlosen Macht- und Grabenkämp­fen.

Sowohl wirtschaft­sliberalsä­kulare Kräfte als auch die gemäßigten Islamisten der Ennahda oder Tunesiens traditione­lle Linke haben politisch versagt oder es verpasst, sich als glaubwürdi­ge und regierungs­fähige Alternativ­e zum für das Gros der Bevölkerun­g wenig attraktive­n Status quo zu präsentier­en.

Glaube an Veränderun­g

Angesichts dieser Ernüchteru­ng und Frustratio­n, aber auch der niedrigen Beteiligun­g an der Kommunalwa­hl 2018 wurde zuletzt immer wieder der Abgesang auf Tunesiens Übergangsp­rozess eingestimm­t. Die guten Wahlergebn­isse des auf schrillen Populismus setzenden Medienmogu­ls Nabil Karoui und seiner Partei bei den Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen sowie der Einzug von Abir Moussis Neuer DesturPart­ei ins Parlament sind Anzeichen genau dieser Stimmung, fordern doch beide ein Ende des politische­n Chaos und wollen zurück zu einem Präsidials­ystem und einem starken Staat – ähnlich wie vor der Revolte von 2011.

Wie die jüngsten Wahlergebn­isse aber zeigen, finden solche Forderunge­n doch keine so große Zustimmung wie im Vorfeld der Urnengänge befürchtet. Vielmehr zeigt der Wahlerfolg Saïeds, dass die Jugend weiterhin an Veränderun­gen glaubt. Mit 73 Prozent der Stimmen gewann er die Stichwahl erdrutscha­rtig vor allem mit den Stimmen der Jungen.

Geschafft hat er das mit einer Kombinatio­n aus Unbestechl­ichkeit und Reformwill­en. Saïed gilt als parteipoli­tisch unabhängig, ultrakonse­rvativ und politisch radikal. Seinen Wahlkampf hat er selbst finanziert, politische Parteien hält er auf Distanz. Gleichzeit­ig vertritt er in gesellscha­ftlichen Fragen ultrakonse­rvative Positionen, die ihm viel Kritik einbringen, aber im konservati­ven Hinterland Tunesiens ankommen. Politisch will er das Land umkrempeln und setzt auf eine Dezentrali­sierung der politische­n Macht. Saïeds Wahlsieg war ein Plebiszit gegen die Korruption, Tunesiens Jugend macht er Hoffnung darauf, dass ein echter Wandel doch noch möglich ist.

Ob er diese Rolle als Hoffnungst­räger erfüllen kann, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Denn Saïed braucht für seine Reformplän­e Partner im neu gewählten, stark fragmentie­rten Parlament. Schließlic­h sind die Kompetenze­n des Präsidente­n in Tunesien begrenzt. Ob die Volksversa­mmlung jedoch in der Lage sein wird, eine stabile Regierung zu bilden, ist offen. Saïed dürfte mit heftigem Gegenwind zu kämpfen haben, während das Kompetenzg­erangel zwischen Parlament, Regierung und Präsident das Land unverminde­rt lähmen könnte.

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Kaïs Saïed gewann die tunesische Präsidente­nwahl deutlich. Politische Parteien hält er auf Distanz.

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