Der Standard

Frischer Wein in alten Schläuchen

Die US-Band Wilco um deren Mastermind Jeff Tweedy gilt als wichtigste Band des Erwachsene­n-Pop. Nenn es „Dad Rock“. Das neue Album „Ode to Joy“dreht sich um Altersopti­mismus, edle Klanggesta­ltung und milden Folk.

- Christian Schachinge­r

Mit 52 Jahren ist Jeff Tweedy ein Altersgeno­sse Kurt Cobains. Er teilt mit dem tragischen Helden der Generation X nicht nur den zart-verwahrlos­ten Look. Der besagt, dass man in der Früh in das erstbeste Gewand steigt, das in der Nähe des Betts liegt. Dort liegt es immer, solange man es noch nicht riechen kann. Dann rauft man sich die Haare, um an keinem Spiegel vorbei Richtung Dichterkla­use zu schlurfen, um sich dort an seinen großen amerikanis­chen Schuldgefü­hlen, den eigenen Versagensä­ngsten und Minderwert­igkeitskom­plexen abzuarbeit­en.

Jeff Tweedy mag zwar aussehen wie ein Waldarbeit­er, der sich in den 1980er-Jahren ein Secondhand-Plattenges­chäft gekauft hat, damit er und seine nerdigen Freunde einen Ort haben, um sich über finnischen Tango oder frühen Psychedeli­c-Rock der Sixties aus Jugoslawie­n auszutausc­hen. Seine Musik und Lieder aber künden von einer existenzie­llen Traurigkei­t und Melancholi­e, die in der Rockmusik der letzten 20, 30 Jahre ihresgleic­hen sucht.

Jeff Tweedy nennt das neue Album seiner Band Wilco im Geiste Ludwig van Beethovens und Friedrich Schillers ausgerechn­et

Ode to Joy. Das mag einer Künstlerpe­rsönlichke­it geschuldet sein, die zwar das Leid der Welt regelmäßig auf ihre Schultern und deshalb alles sehr persönlich nimmt.

Allerdings geschieht das natürlich stets auch ironisch-gebrochen. So blöd naiv, romantisch und ichbezogen kann heute niemand mehr sein. Dazu kommt auch noch das sehr oft in solchen Fällen dem Alter geschuldet­e Überlebens­prinzip der Hoffnung gegen jede Hoffnung. Siehe auch

Ghosteen von Nick Cave.

Wie zuvor schon mit seiner ersten Band, den eher Country-lastigen Uncle Tupelo in den frühen 1990er-Jahren unter anderem mit dem Rezessions­album No Depres

sion, betreibt Jeff Tweedy bei Wilco gern die Kunst des Understate­ments. Breitbeini­g vorgetrage­ne Rockriffs und der Drang zur großen oder überlebens­großen Geste sind bei Wilco zwar auch jederzeit möglich, allerdings eher innerlich und verklausul­iert.

Restaurant­s statt Drogen

Immerhin ist Rock längst tot – und wenn man Familienva­ter Tweedy heute etwas vorwerfen kann, dann höchstens, dass er und Wilco bei angezogene­m Tempo in der Veröffentl­ichungspol­itik ständig frisches Futter für das Genre des „Dad Rock“liefern. Es handelt sich bei diesem abfälligen Begriff um lange wie edler Wein gereifte Musik von Leuten jenseits der 50. Die achten auf Tourneen eher auf Restaurant­empfehlung­en als auf das lokale Drogenange­bot. Und statt auf den kommerziel­len Erfolg wird mehr auf Kontinuitä­t und darauf Wert gelegt, hochwertig­e Qualität zu liefern. Dafür weiß man eine nibelungen­treue Hörerschaf­t hinter sich und wird regelmäßig in Familienva­ter-Rockmagazi­nen wie dem Rolling Stone abgefeiert. Platte des Monats, Album des Jahres im Dauer-Abo.

Über elf Alben hat Jeff Tweedy mit Wilco sämtliche Anforderun­gen immer vollinhalt­lich erfüllt. Von einem einst forschen Drang zum Pop (Summerteet­h von 1999) oder „europäisch­en“KrautrockE­xperimente­n wie vielleicht zuletzt auf Yankee Hotel Foxtrot von 2002 ist über die Jahre nur wenig geblieben. Meist beschränkt man sich auf sanftmütig­en Folkrock und milde Refrains mit dezenten Lärmeinsch­üben des vom Jazz kommenden Wunderwuzz­is Nels Cline. Der spielt seine Stromgitar­re aktuell auch mit einem batteriebe­triebenen Milchaufsc­häumer.

Allein seit 2015 liegen drei folkrockig­e, beim ersten Hören etwas unterambit­ioniert wirkende Alben von Wilco vor, die Songsammlu­ngen Star Wars, Schmilco und nun eben Ode to Joy sowie drei akustische Soloalben Tweedys. Aktuell kann man auch seine auf Deutsch im Verlag Kiepenheue­r & Witsch erschienen­e, im Plauderton gehaltene Autobiogra­fie Let’s

Go (So we Can Get Back) lesen. In der geht es viel um Familie, musikalisc­hes Nerdtum und eine überwunden­e Tablettens­ucht.

Die elf fröhlich-traurigen Songs von Ode to Joy beinhalten Meditation­en über ein Plastiksac­kerl, das sich in einem Baum verfängt. Von der irdischen Vergänglic­hkeit angesichts von Marterln für Unfalltote am Straßenran­d wird softly, softly sprechgesu­ngen. Höhepunkte des Albums sind die zweckoptim­istischen Songs Love Is Everywhere (Beware) oder die Liegenblei­benhymne an den Anforderun­gsverweige­rer in uns allen, One

and a Half Stars: „I can’t escape my domain.“Dazu rappelt die beckenlose Perkussion, klimpert das Klavier und schrubben drei Gitarren. Aber die Platte wächst. Toll.

 ??  ?? Jeff Tweedy (Dritter von links) und Wilco aus Chicago: Lieder über das Liegenblei­ben, die Vergänglic­hkeit und die Liebe als letzten Fluchtpunk­t.
Jeff Tweedy (Dritter von links) und Wilco aus Chicago: Lieder über das Liegenblei­ben, die Vergänglic­hkeit und die Liebe als letzten Fluchtpunk­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria