Brexit-Deal ist fertig, aber Johnson bangt um Mehrheit
Abkommen mit EU soll harte Grenze zu Irland vermeiden Nordirische Unionisten und Opposition äußerten sich ablehnend
Geht es nur nach den Unterhändlern des Vereinigten Königreichs und der EU-27, steht einem geordneten Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union nichts im Wege. Beide Seiten einigten sich am Donnerstag in Brüssel auf einen neuen BrexitVertrag. EU-Kommissionspräsident JeanClaude Juncker sprach von einem „fairen und ausbalancierten“Abkommen, der britische Premier Boris Johnson von einem „großartigen“Deal.
Die Übereinkunft soll eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland weiterhin ausschließen. Dieses Thema galt stets als der heikelste Punkt im gesamten BrexitProzess. Nordirland soll nun im Güterverkehr weiter EU-Regeln unterliegen. Zugleich werde die Provinz aber auch der britischen Zollhoheit für Waren unterstehen, sofern diese dort verbleiben.
Ob Johnson im britischen Unterhaus aber eine Mehrheit für die Vereinbarung bekommt, bleibt fraglich. Mit seinen Tories hat er im Parlament keine eigene Mehrheit. Die nordirischen Unionisten und Labour haben Widerstand angekündigt. Insgeheim hatte man schon mit einem Durchbruch gerechnet – am Donnerstag konnte dieser durch Boris Johnson (links) und Jean-Claude Juncker offiziell gemacht werden.
So entspannt wie Donnerstagnachmittag hat man die 28 Staats- und Regierungschefs der Union zum Start eines EU-Gipfels lange nicht mehr gesehen: „Freuen wir uns doch einfach darüber, wenn es so positiv beginnt“, flötete Xavier Bettel aus Luxemburg in die Mikrofone. Es gehe nicht mehr darum, „ob es einen Brexit gibt oder nicht“, sondern ob der für 31. Oktober angesetzte EU-Austritt des Vereinigten Königreichs „mit einem Deal oder ohne Deal“stattfindet.
Praktisch bedeutete das die Antwort darauf, ob die Trennung geordnet mit einer Übergangszeit abläuft oder es in zwei Wochen zu einem harten Schnitt mit allen negativen Folgen für Wirtschaft und Bürger kommt. Das gefürchtete Crash-Szenario sei zwar noch nicht ganz vom Tisch, erklärte Bettel; aber da die Verhandler der britischen Regierung und der EU-27 nur wenige Stunden zuvor eine Einigung erzielt hätten, müsse man jetzt vor allem „die Chancen sehen“. Der Binnenmarkt werde gewahrt, die
Grenzen in Nordirland bleiben offen, „jetzt kommt es auf Westminster an“, auf das britische Parlament, das am Samstag über den modifizierten EU-Austrittsvertrag abstimmen wird. Da Labour, die schottischen Abgeordneten und die nordirischen Unionisten vorläufig Nein sagten, bleibt das weiter spannend (siehe Berichte Seite 3)
Nun müsse der britische Premierminister Boris Johnson nur noch für eine
Mehrheit im Unterhaus, das den EU-Austrittsvertrag im Frühjahr bereits drei Mal abgelehnt hatte, sorgen, gab Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Protokoll. Stellvertretend für seine Kollegen wollte er damit sagen: Wir haben unsere Arbeit erfüllt.
Punktlandung vor dem Gipfel
Der Franzose ist am stärksten gegen jede weitere Verlängerung der Fristen, gegen einen Aufschub der Scheidung von EU und dem Vereinigten Königreich, wovon in den vorbereiteten Schlusserklärungen des Gipfels auch keine Rede mehr war. Mit 1. November 2019 würden die getroffenen Regelungen zum EU-Austritt in Kraft treten.
Dass der Kompromiss in allen Details fast punktgenau zum Gipfelbeginn zustande kam, war neben Johnson wohl vor allem einem Mann aufseiten der EU-27 zu verdanken, Chefverhandler Michel Barnier. Der Franzose hatte bereits Anfang der Woche angekündigt, dass er den Staats- und Regierungschefs eine sachlich und juristisch fertige Lösung für alle strittigen Fragen zum Austrittsabkommen vorlegen werde. Nach einem Gesprächsmarathon über Nacht war es nach der Klärung letzter strittiger Details zur Verrechnung von Mehrwertsteuereinnahmen in Nordirland Donnerstag kurz vor Mittag so weit.
„Wo ein Wille ist, da ist ein Deal“, verbreitete Kommissionspräsident JeanClaude Juncker als Erster offiziell die
Nachricht via Twitter. Nur Sekunden später freute sich Johnson in London über einen „großartigen neuen Brexit“. Er stieg sofort ins Flugzeug, um dann in einer Presseerklärung mit Juncker seinen „besonderen Dank für die vernünftige
und faire Lösung“zu deponieren. Johnson betonte, dass Großbritannien bei einer Annahme des Deals im Unterhaus sofort frei sei, Handelsdeals mit dem Rest der Welt abzuschließen. Er versprach Juncker aber auch, dass sein Land mit den EU-27 als „solide
europäische Freunde und Unterstützer eine neue Partnerschaft aufbauen werden“. Juncker betonte, dass auch das Europäische Parlament dem Deal erst zustimmen müsse, voraussichtlich nächste Woche in Straßburg.
Wie ein Verhandler dem Standard sagte, entspricht die vorliegende Fassung des Austrittsvertrags „zu mehr als 95 Prozent“der Vereinbarung, die Johnsons Vorgängerin Theresa May im November 2018 fixiert hatte. Verändert wurden in der Substanz nur jene Teile, die sich auf die irische Insel, konkret
auf Nordirland beziehen, wenn Großbritannien zum Drittland wird. Das heißt: Mit dem Austrittsdatum 31. Oktober, Mitternacht, tritt zunächst eine Übergangsfrist bis Ende 2020 in Kraft, in der die bestehenden EU-Regeln in Großbritannien weiterhin gelten werden. Laut Barnier gibt es „volle Rechtssicherheit“. So können EU-Bürger, die im Vereinigten Königreich leben, und Briten, die in einem anderen EU-Land leben (insgesamt 4,5 Millionen Menschen), ihren Status wahren – sozialrechtlich,
arbeitsrechtlich oder die Pensionen betreffend. London zahlt weiterhin
seine Beiträge ins EU-Budget ein, seit Anfang 2019 gerechnet werden das 39 Milliarden Euro sein. Alle gemeinsamen EU-Programm laufen weiter, was im Forschungsbereich wichtig ist.
Ganz neu gestaltet werden soll der „Backstop“, die Garantie für offene Grenzen in Irland. Die EU-27 hatten bisher ultimativ darauf bestanden, um das Karfreitags-Friedensabkommen zu erfüllen. Auch wenn ein Freihandelsabkommen in Zukunft scheiterte, sollte es keine Grenzkontrollen in Irland geben.
Diese Position haben die EU-27 aufgegeben. Der Backstop wurde abgelöst von der Formel, dass es nach der Übergangsperiode bis Ende 2020 vier Jahre lang offene Grenzen geben muss. Dann könnte das nordirische Parlament entscheiden, ob die Regelung um vier weitere Jahre verlängert wird, Grenzkontrollen nötig werden, die aber nicht vor 2026 kommen dürften. Im Gegenzug hat London eine Sonderregelung für Nordirland bei Zollregelungen und Binnenmarktregeln akzeptiert.
„Zwitterrolle“für Nordirland
Nordirland soll formell zwar Teil des britischen Zollregimes sein; aber Nordirland hätte auch eine „Zwitterrolle“, weil es (bei offenen Grenzen zur Republik Irland) Zollregeln der EU-27 anwenden müsste, sofern Waren aus dem Königreich in EU-Staaten weitergeliefert werden. So soll unfairer Wettbewerb verhindert werden. Ausnahmen gibt es nur, wenn solche Güter in Nordirland bleiben oder dem persönlichen Bedarf dienen.
Daneben müsste in Nordirland auch eine gewisse Zahl an EU-Binnenmarktregeln zur Anwendung kommen, sprich Produkt- und Hygienestandards – insbesondere bei Tier- und Lebensmittelkontrollen. Die Kontrollen werden britischen Behörden überlassen. Das Königreich kassiert auch die fälligen Mehrwertsteuern bei Waren ein – so wie bisher als EU-Mitglied.
Wie die sehr komplexen Regeln in der Praxis funktionieren sollen, ist offen. Im EU-Parlament befürchtet man, dass sich Schlupflöcher auftun. Geklärt ist, dass die Kontrollen nicht auf irischem Territorium erfolgen, sondern beim „Eintrittspunkt“, an dem man auf die Insel, also in Häfen und Flughäfen bzw. jenseits der „Irischen See“, kommt.