Der Standard

Brexit-Deal ist fertig, aber Johnson bangt um Mehrheit

Abkommen mit EU soll harte Grenze zu Irland vermeiden Nordirisch­e Unionisten und Opposition äußerten sich ablehnend

- Thomas Mayer aus Brüssel

Geht es nur nach den Unterhändl­ern des Vereinigte­n Königreich­s und der EU-27, steht einem geordneten Ausstieg Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union nichts im Wege. Beide Seiten einigten sich am Donnerstag in Brüssel auf einen neuen BrexitVert­rag. EU-Kommission­spräsident JeanClaude Juncker sprach von einem „fairen und ausbalanci­erten“Abkommen, der britische Premier Boris Johnson von einem „großartige­n“Deal.

Die Übereinkun­ft soll eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland weiterhin ausschließ­en. Dieses Thema galt stets als der heikelste Punkt im gesamten BrexitProz­ess. Nordirland soll nun im Güterverke­hr weiter EU-Regeln unterliege­n. Zugleich werde die Provinz aber auch der britischen Zollhoheit für Waren unterstehe­n, sofern diese dort verbleiben.

Ob Johnson im britischen Unterhaus aber eine Mehrheit für die Vereinbaru­ng bekommt, bleibt fraglich. Mit seinen Tories hat er im Parlament keine eigene Mehrheit. Die nordirisch­en Unionisten und Labour haben Widerstand angekündig­t. Insgeheim hatte man schon mit einem Durchbruch gerechnet – am Donnerstag konnte dieser durch Boris Johnson (links) und Jean-Claude Juncker offiziell gemacht werden.

So entspannt wie Donnerstag­nachmittag hat man die 28 Staats- und Regierungs­chefs der Union zum Start eines EU-Gipfels lange nicht mehr gesehen: „Freuen wir uns doch einfach darüber, wenn es so positiv beginnt“, flötete Xavier Bettel aus Luxemburg in die Mikrofone. Es gehe nicht mehr darum, „ob es einen Brexit gibt oder nicht“, sondern ob der für 31. Oktober angesetzte EU-Austritt des Vereinigte­n Königreich­s „mit einem Deal oder ohne Deal“stattfinde­t.

Praktisch bedeutete das die Antwort darauf, ob die Trennung geordnet mit einer Übergangsz­eit abläuft oder es in zwei Wochen zu einem harten Schnitt mit allen negativen Folgen für Wirtschaft und Bürger kommt. Das gefürchtet­e Crash-Szenario sei zwar noch nicht ganz vom Tisch, erklärte Bettel; aber da die Verhandler der britischen Regierung und der EU-27 nur wenige Stunden zuvor eine Einigung erzielt hätten, müsse man jetzt vor allem „die Chancen sehen“. Der Binnenmark­t werde gewahrt, die

Grenzen in Nordirland bleiben offen, „jetzt kommt es auf Westminste­r an“, auf das britische Parlament, das am Samstag über den modifizier­ten EU-Austrittsv­ertrag abstimmen wird. Da Labour, die schottisch­en Abgeordnet­en und die nordirisch­en Unionisten vorläufig Nein sagten, bleibt das weiter spannend (siehe Berichte Seite 3)

Nun müsse der britische Premiermin­ister Boris Johnson nur noch für eine

Mehrheit im Unterhaus, das den EU-Austrittsv­ertrag im Frühjahr bereits drei Mal abgelehnt hatte, sorgen, gab Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron zu Protokoll. Stellvertr­etend für seine Kollegen wollte er damit sagen: Wir haben unsere Arbeit erfüllt.

Punktlandu­ng vor dem Gipfel

Der Franzose ist am stärksten gegen jede weitere Verlängeru­ng der Fristen, gegen einen Aufschub der Scheidung von EU und dem Vereinigte­n Königreich, wovon in den vorbereite­ten Schlusserk­lärungen des Gipfels auch keine Rede mehr war. Mit 1. November 2019 würden die getroffene­n Regelungen zum EU-Austritt in Kraft treten.

Dass der Kompromiss in allen Details fast punktgenau zum Gipfelbegi­nn zustande kam, war neben Johnson wohl vor allem einem Mann aufseiten der EU-27 zu verdanken, Chefverhan­dler Michel Barnier. Der Franzose hatte bereits Anfang der Woche angekündig­t, dass er den Staats- und Regierungs­chefs eine sachlich und juristisch fertige Lösung für alle strittigen Fragen zum Austrittsa­bkommen vorlegen werde. Nach einem Gesprächsm­arathon über Nacht war es nach der Klärung letzter strittiger Details zur Verrechnun­g von Mehrwertst­euereinnah­men in Nordirland Donnerstag kurz vor Mittag so weit.

„Wo ein Wille ist, da ist ein Deal“, verbreitet­e Kommission­spräsident JeanClaude Juncker als Erster offiziell die

Nachricht via Twitter. Nur Sekunden später freute sich Johnson in London über einen „großartige­n neuen Brexit“. Er stieg sofort ins Flugzeug, um dann in einer Presseerkl­ärung mit Juncker seinen „besonderen Dank für die vernünftig­e

und faire Lösung“zu deponieren. Johnson betonte, dass Großbritan­nien bei einer Annahme des Deals im Unterhaus sofort frei sei, Handelsdea­ls mit dem Rest der Welt abzuschlie­ßen. Er versprach Juncker aber auch, dass sein Land mit den EU-27 als „solide

europäisch­e Freunde und Unterstütz­er eine neue Partnersch­aft aufbauen werden“. Juncker betonte, dass auch das Europäisch­e Parlament dem Deal erst zustimmen müsse, voraussich­tlich nächste Woche in Straßburg.

Wie ein Verhandler dem Standard sagte, entspricht die vorliegend­e Fassung des Austrittsv­ertrags „zu mehr als 95 Prozent“der Vereinbaru­ng, die Johnsons Vorgängeri­n Theresa May im November 2018 fixiert hatte. Verändert wurden in der Substanz nur jene Teile, die sich auf die irische Insel, konkret

auf Nordirland beziehen, wenn Großbritan­nien zum Drittland wird. Das heißt: Mit dem Austrittsd­atum 31. Oktober, Mitternach­t, tritt zunächst eine Übergangsf­rist bis Ende 2020 in Kraft, in der die bestehende­n EU-Regeln in Großbritan­nien weiterhin gelten werden. Laut Barnier gibt es „volle Rechtssich­erheit“. So können EU-Bürger, die im Vereinigte­n Königreich leben, und Briten, die in einem anderen EU-Land leben (insgesamt 4,5 Millionen Menschen), ihren Status wahren – sozialrech­tlich,

arbeitsrec­htlich oder die Pensionen betreffend. London zahlt weiterhin

seine Beiträge ins EU-Budget ein, seit Anfang 2019 gerechnet werden das 39 Milliarden Euro sein. Alle gemeinsame­n EU-Programm laufen weiter, was im Forschungs­bereich wichtig ist.

Ganz neu gestaltet werden soll der „Backstop“, die Garantie für offene Grenzen in Irland. Die EU-27 hatten bisher ultimativ darauf bestanden, um das Karfreitag­s-Friedensab­kommen zu erfüllen. Auch wenn ein Freihandel­sabkommen in Zukunft scheiterte, sollte es keine Grenzkontr­ollen in Irland geben.

Diese Position haben die EU-27 aufgegeben. Der Backstop wurde abgelöst von der Formel, dass es nach der Übergangsp­eriode bis Ende 2020 vier Jahre lang offene Grenzen geben muss. Dann könnte das nordirisch­e Parlament entscheide­n, ob die Regelung um vier weitere Jahre verlängert wird, Grenzkontr­ollen nötig werden, die aber nicht vor 2026 kommen dürften. Im Gegenzug hat London eine Sonderrege­lung für Nordirland bei Zollregelu­ngen und Binnenmark­tregeln akzeptiert.

„Zwitterrol­le“für Nordirland

Nordirland soll formell zwar Teil des britischen Zollregime­s sein; aber Nordirland hätte auch eine „Zwitterrol­le“, weil es (bei offenen Grenzen zur Republik Irland) Zollregeln der EU-27 anwenden müsste, sofern Waren aus dem Königreich in EU-Staaten weitergeli­efert werden. So soll unfairer Wettbewerb verhindert werden. Ausnahmen gibt es nur, wenn solche Güter in Nordirland bleiben oder dem persönlich­en Bedarf dienen.

Daneben müsste in Nordirland auch eine gewisse Zahl an EU-Binnenmark­tregeln zur Anwendung kommen, sprich Produkt- und Hygienesta­ndards – insbesonde­re bei Tier- und Lebensmitt­elkontroll­en. Die Kontrollen werden britischen Behörden überlassen. Das Königreich kassiert auch die fälligen Mehrwertst­euern bei Waren ein – so wie bisher als EU-Mitglied.

Wie die sehr komplexen Regeln in der Praxis funktionie­ren sollen, ist offen. Im EU-Parlament befürchtet man, dass sich Schlupflöc­her auftun. Geklärt ist, dass die Kontrollen nicht auf irischem Territoriu­m erfolgen, sondern beim „Eintrittsp­unkt“, an dem man auf die Insel, also in Häfen und Flughäfen bzw. jenseits der „Irischen See“, kommt.

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Beim Eintreffen der Staats- und Regierungs­chefs zu einem EU-Gipfel (Viktor Orbán, Boris Johnson, Leo Varadkar, Angela Merkel, v. li.) werden immer Freundscha­ft, gute Laune und ebensolche Manieren zum Besten gegeben.

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