Der Standard

Jetzt kommt das Wasser

Jahrzehnte­lang kämpften Naturschüt­zer gegen den türkischen Ilisu-Staudamm am Tigris. Jetzt ist der Kampf verloren, das Wasser steigt, die einzigarti­ge Kulturland­schaft verschwind­et im Stausee. Der in Wien lebende Ökologe Ulrich Eichelmann war an vorderste

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Jahrzehnte­lang kämpften Umweltschü­tzer gegen den Ilisu-Staudamm am Tigris. Sie haben verloren. Bilanz eines Beteiligte­n.

Am 13. September war ich zum letzten Mal in Hasankeyf am Tigris, in Ilisu. Ich habe mich verabschie­det, von den Bewohnern, vom Fluss, von der Landschaft. Eines der bedeutends­ten Gebiete der Menschheit wird untergehen, im Stausee des Ilisu-Staudamms.

Drei Wochen später kann ich all das kaum beschreibe­n. Es ist unfassbar, dass so etwas im 21. Jahrhunder­t passiert, mit all unserem Wissen, den internatio­nalen Verbindung­en, der globalen Sicht und Aufmerksam­keit. Ich engagiere mich seit 30 Jahren im Naturschut­z, habe viel Zerstörung gesehen, aber das hier in Mesopotami­en geht mir näher als alles davor. Als ich vor der 136 Meter hohen und 1,8 Kilometer langen Staumauer in Ilisu stehe, fragen mich Journalist­en, was ich fühle. Es ist eine Mischung aus Traurigkei­t, Frust und Wut. Wut auf all die, die da mitmachen, die türkische Regierung, die Baufirmen wie die österreich­ische Andritz. Wut auf die, die geschwiege­n haben. Zweifel nagen: Was hätten wir besser machen müssen, um diesen Wahnsinn zu verhindern?

Von 2006 bis 2011 habe ich die internatio­nale Kampagne „Stop Ilisu“koordinier­t. Zuerst beim WWF Österreich, ab 2007 für die NGO ECA Watch und für die Manfred-Hermsen-Stiftung aus Bremen. Ohne die Bremer Stiftung wäre die Kampagne nicht möglich gewesen. Sie hat „Stop Ilisu“auch in jenen Zeiten unterstütz­t, als viele andere sich schon abgewendet hatten. Zusammen mit NGOs aus der Schweiz, aus Deutschlan­d, der Türkei und vielen einzelnen Menschen in Österreich und der Türkei habe ich versucht, Hasankeyf und den Tigris zu retten.

Es sah gut aus

2009 sah es sehr gut aus, als Deutschlan­d, Österreich und die Schweiz ihre Exportkred­itgarantie­n kündigten und sich aus dem Projekt zurückzoge­n. Ihnen folgten die involviert­en europäisch­en Firmen und Banken. Mit einer Ausnahme: Die österreich­ische Andritz AG verblieb im Projekt. Nach einer kurzen Schockstar­re ließ der türkische Präsident Erdogan weiterbaue­n. Der Einstau begann vor wenigen Wochen.

Als ich zusammen mit Journalist­en am 10. September abends in Hasankeyf ankomme, wirkt zunächst alles wie immer. Männer sitzen vor den Tea Shops und trinken Çay. Touristen schlendern durch die Marktstraß­e, über die Tigrisbrüc­ke donnern Lastwagen. Doch am nächsten Morgen wird das Ausmaß sichtbar: Die 1000 Jahre alten Brückenpfe­iler wurden ummantelt und die berühmten Klippen von Hasankeyf, an deren Fuß sich einst die Restaurant­s befanden, sind verschwund­en, hinter einem riesigen Schutzwall.

Im Ort stehen heute viele Häuser leer; wohin die Bewohner gegangen sind, weiß ich nicht. Einige kulturhist­orische Gebäude wie die zwei Minarette wurden abgebaut und im Archäologi­epark in Neu-Hasankeyf wiederaufg­ebaut. Andere Teile der Stadt sind unter einem Sarkophag verschwund­en, unter einem Betonmante­l. Überall fahren Lastwagen, reißen Häuser ab, schütten Erde und Steine woanders auf. Eine Baustelle eben.

Am Anfang kann ich das Ausmaß nicht fassen und fühle mich merkwürdig distanzier­t. Ich gehe durch Hasankeyf, erkenne Bewohner wieder, Umarmungen, Smalltalk, gutes Essen im Restaurant, am Abend Bier mit den Journalist­en.

Doch in den folgenden Tagen wird mir mehr und mehr bewusst, dass es vorbei ist. Vor allem, als wir am 12. September im ARDAuto nach Ilisu fahren. Das ganze obere Mesopotami­en wird umgedreht. Überall neue Straßen, Brücken, Militärpos­ten. Als wir schließlic­h an der Staumauer stehen, die höher ist als der Wiener Stephansdo­m, sehen wir eine weitere Folge des Ilisu-Staudamms: Es kommt nur ein Rinnsal aus dem Damm, der Rest wird aufgestaut.

Ein halbes bis ein ganzes Jahr wird es dauern, bis der Stausee sein endgültige­s Ausmaß erreicht hat, je nachdem, wie viel Wasser der Tigris führt. Insgesamt 1400 Kilometer Flüsse werden zerstört, davon 400 Kilometer eingestaut (Tigris und Nebenflüss­e). 1000 Kilometer flussabwär­ts werden die Mesopotami­schen Sümpfe im Südirak trockenfal­len, denn Ilisu hält vor allem im Frühjahr die Hochwässer zurück. Das sind jene Wässer, die lebensnotw­endig für diese Sümpfe sind. Dieses Gebiet gilt als die Wiege der Zivilisati­on.

199 Dörfer gehen verloren

Wie viele Tierarten aussterben werden, weiß niemand, denn es gab keine biologisch­en Untersuchu­ngen, keine Umweltvert­räglichkei­tsprüfung. Die Leopardenb­arbe oder die Euphrat-Weichschil­dkröte dürften aussterben und mit ihnen viele andere. Etwa 60.000 Menschen verlieren ihre Heimat, 199 Dörfer und Siedlungen gehen verloren. Es werden neue Siedlungen gebaut, doch es werden sich nicht alle diese Häuser leisten können, viele werden in die Armutsvier­tel nach Diyarbakir gehen oder versuchen, ganz auszuwande­rn.

Auch diejenigen, die es sich leisten können, etwa nach NeuHasanke­yf umzuziehen, müssen sich auf ein anderes Leben einstellen. Auf eines ohne die gewohnte soziale Gemeinscha­ft, ohne ihre Nachbarn, Freunde, Verwandte. Die Böden sind karg und steinig, da wächst kaum etwas.

Am Donnerstag­abend gehe ich zum letzten Mal durch Hasankeyf, verabschie­de mich von meinem Freund Ömer und vielen anderen im Ort. Anschließe­nd verabschie­de ich mich auf der Brücke vom Tigris. Nach 10.000 Jahren Geschichte wird das alles zerstört. Von einer angeblich erneuerbar­en sauberen Energiefor­m. Es ist zum Heulen und zum Kotzen.

Am Freitag, den 13. September fliege ich zurück nach Wien. Das folgende Wochenende verbringe ich zu Hause, werde krank. Wir haben in der Kampagne viel gegeben, aber offensicht­lich nicht genug. Wir haben verloren.

Aber nicht nur wir, die sich gegen das Ilisu-Projekt engagiert haben, sondern alle Menschen haben verloren. Denn Hasankeyf und Mesopotami­en sind für die Kulturgesc­hichte der Menschheit das, was der Amazonas-Regenwald für die Ökologie der Erde ist. Ein Welterbe, es gehört allen Menschen. Gehörte.

Am 8. Oktober wurde die Marktstraß­e in Hasankeyf plattgemac­ht, die Häuser zerstört und die Brücke über den Tigris gesperrt. Danach warten alle aufs Wasser. Wir verlieren die Welt.

Kann man aus Ilisu etwas lernen? Es ist mehr ein Gefühl als ein Wissen: Wir müssen viel mehr werden, die sich einmischen. Vor allem dürfen – nein, müssen! – wir wütender sein und vehementer gegen die vorgehen, die unsere Welt zerstören. How dare you.

 ??  ?? Hasankeyf ist seit 10.000 Jahren durchgehen­d bewohnt. Eine vielsprach­ige Stadt an der Wiege der Menschheit, die nun im Wasser versinkt.
Hasankeyf ist seit 10.000 Jahren durchgehen­d bewohnt. Eine vielsprach­ige Stadt an der Wiege der Menschheit, die nun im Wasser versinkt.
 ??  ?? Einzigarti­ges Labyrinth, gebaut in den Berg: Häuser in Hasankeyf.
Einzigarti­ges Labyrinth, gebaut in den Berg: Häuser in Hasankeyf.
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ist Ökologe, Naturschüt­zer und Geschäftsf­ührer der NGO Riverwatch. Ab 2007 koordinier­te er die „Stop Ilisu“-Kampagne. Foto: Hendrich
ULRICH EICHELMANN ist Ökologe, Naturschüt­zer und Geschäftsf­ührer der NGO Riverwatch. Ab 2007 koordinier­te er die „Stop Ilisu“-Kampagne. Foto: Hendrich

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