In Berlin bebt die große Koalition
Nach der überraschenden Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken an die SPD-Spitze mahnt die Union die neue Führung zur Koalitionstreue. Doch die Groko-Skepsis der beiden Novizen ist sehr ausgeprägt.
Ich bin völlig baff.“Das twitterte FDP-Chef Christian Lindner am Samstagabend, und er sprach damit vielen aus der Seele. Mit 53,06 Prozent haben sich Nordrhein-Westfalens Ex-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Saskia Esken durchgesetzt: Sie werden die neuen Parteichefs der SPD.
Das SPD-Establishment und auch viele andere hatten eigentlich mit einer Entscheidung für Finanzminister Olaf Scholz und die Brandenburger Politologin Klara Geywitz gerechnet. Doch die beiden unterlagen mit 45,33 Prozent. Und nun, nach der Stichwahl, gibt es in Berlin nur noch ein Thema: Wie geht es weiter mit der großen Koalition?
Während Scholz und Geywitz ganz klar am Bündnis festhalten wollten, sind „Nowabo“und Esken Groko-Skeptiker. Vor allem Esken hat auch kein Problem damit, die große Koalition bald zu verlassen. „Fluchtartig“werde das aber nicht passieren, hatte sie vor einigen Tagen angekündigt.
Kein Groko-Aus zu Nikolaus
Am Samstagabend erklärte sie dann, das neue Führungsduo der SPD plane „keinen Alleingang“, sondern werde den Kurs gemeinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion und den SPD-Ministern abstimmen. Dort wird ein „GrokoAus an Nikolaus“, wie der Schlachtruf der Linken lautet, sehr skeptisch gesehen.
Zu Nikolaus, am 6. Dezember also, könnte aber doch eine Vorentscheidung getroffen werden. An diesem Tag beginnt der dreitägige SPD-Parteitag in Berlin. Dieser wird die neue Führung dann noch formell wählen, außerdem wird man sich mit der Zukunft der großen Koalition beschäftigen.
Als wahrscheinlichstes Szenarion gilt, dass die Delegierten Ansich träge verabschieden, in denen sie dem Koalitionspartner Union neue Forderungen stellen: einen Mindestlohn von zwölf Euro, Investitionen in Schiene und Straßen, Grundrente ohne Einkommensprüfung und mehr Maßnahmen für den Klimaschutz. Man werde entscheiden, „was jetzt so dringend umgesetzt wird, dass wir daran auch die Koalitionsfrage stellen“, sagt Walter-Borjans.
Ruhe bewahren
Danach will das neue Duo mit der CDU/CSU verhandeln. Doch die Union möchte gar keine neuen Forderungen erfüllen. Nach dem Sieg von Walter-Borjans und Esken haben einige Unionspolitiker gleich einmal darauf verwiesen, dass die Zusammenarbeit ganz normal weitergehen werde. „Dafür gibt es eine Grundlage, und das ist der Koalitionsvertrag, der zwischen der SPD und der Union geschlossen wurde, und daran hat
nichts geändert“, sagte CDUGeneralsekretär Paul Ziemiak sofort nach der Wahl.
Auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer wies am Sonntag genau darauf hin. Tobias Hans (CDU), Ministerpräsident des Saarlands, sagte, für die Union gelte jetzt die Devise: „Ruhe bewahren, aber standhaft bleiben.“Neuverhandlungen zum Koalitionsvertrag werde es nicht geben.
Auch der CDU-Wirtschaftsrat warnt die Union vor Zugeständnissen. Sie dürfe sich nicht „auf neue utopische Forderungen der Sozialdemokraten nur um des Machterhalts willen einlassen“, sagte der Generalsekretär Wolfgang Steiger. CDU und CSU hätten schon jetzt genügend Vorleistungen erbracht und damit viele Stammwähler enttäuscht. KrampKarrenbauer dürfe auf keinen Fall nachgeben – „auch wenn das eine vorübergehende Minderheitsregierung oder sogar Neuwahlen zur Folge hätte“.
Eine neue Führung hat am Wochenende auch die AfD gewählt. Weitermachen als Bundessprecher wird Jörg Meuthen. Doch Alexander Gauland ist nicht mehr an Bord, ihm folgt der sächsische Malermeister Tino Chrupalla.
Kommentar, Kopf des Tages Seite 20