Der Standard

Andris Nelsons’ erstes Neujahrsko­nzert

Mit der treffliche­n Neuinszeni­erung von Tschaikows­kis Oper „Eugen Onegin“beschert Dieter Giesing dem Stadttheat­er Klagenfurt ein Geschenk.

- Michael Cerha

Die russische Literatur kennt das Leben von seiner widersprüc­hlichsten Seite. Unter den prominente­sten Romanfigur­en grassiert der Überdruss, obwohl es ihnen an Geist und Geld nicht mangelt. Das probateste Hausmittel gegen Ödnis und schleichen­de Langeweile heißt Liebe. Bei Eugen Onegin, diesem Faulenzer der begabteste­n Art, hilft allerdings nicht einmal mehr das herzenswar­me Sentiment der Unschuld vom Lande, die auf den Namen Tatjana hört. So kalt Onegin bleibt, so heiß wird das Publikum von Peter Iljitsch Tschaikows­kis Vertonung des PuschkinSt­offs berührt.

Ohne Zaunpfahlw­inke

Es soll schon Regisseure gegeben haben, die Onegins Gefühlskäl­te auf der Bühne durch einen Dauerschne­efall zu vermitteln versuchten. In der ungemein treffsiche­ren Klagenfurt­er Neuinszeni­erung der Oper durch den mittlerwei­le 86-jährigen Altmeister Dieter Giesing bleiben Zaunpfahlw­inke mit Schneehäub­chen freilich aus.

Da ist das vergessene Sakko, die leere Hülle, die Tatjana in der berühmten Liebesbrie­fszene immerzu herzt. Da ist, eine aufwandlos­e und dennoch großartige Umsetzung, Eugen Onegins demonstrat­ive Abwendung vom Gegner beim Duell: So egal sind ihm Leben und Tod, dass es das Zielen nicht wert ist.

Aber eigentlich ist das Gartenhäus­chen im Birkenhain, das

Dorffest unter dem Glühlampen­Baldachin oder das Palais des Fürsten Gremin von betonter Einfachhei­t, ja Selbstvers­tändlichke­it. Und da trifft sich die Regie ideal mit der von Jader Bignamini geradezu selbstlos in den Vordergrun­d gerückten Absicht Tschaikows­kis, der Lebenswirk­lichkeit und dem eigenen Alltag auf den Fersen zu bleiben.

Oft sind es ja Zufälle aus Ideen, Anfragen und Absagen, die bestimmte Besetzunge­n zur Folge haben. Was immer es hier war, stimmlich steht diese Produktion unter einem Glücksster­n. Das ist zunächst der Georgierin Tamuna Gochashvil­i zu danken, die – obwohl bereits mit einem Engagement an der Staatsoper nobilitier­t – in Klagenfurt zum ersten Mal im

Leben auf der Bühne steht. Und wie! Stimmlich wie darsteller­isch vollzieht sie alle Gefühlssch­wankungen der keimenden Liebe, um im Finale als Fürstin mit beklemmend­er Ehrlichkei­t die Vernunftlö­sung vorzuziehe­n.

Und dann kommt dauernd noch etwas dazu: hier Pavel Petrovs tenoral strahlende­r Lenski, da Adrian Timpaus in aller biografisc­hen Ziellosigk­eit manchmal plötzlich doch gefühlvoll­er Onegin oder Taras Berezhansk­ys phänomenal sonorer Lobpreis auf Tatjana. Ein Weihnachts­geschenk.

28., 31. 12. 2019 und 2. 1. 2020

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? Nach Puschkin: Adrian Timpau und Tamuna Gochashvil­i durchmesse­n unermessli­che Gefühlstie­fen.
Nach Puschkin: Adrian Timpau und Tamuna Gochashvil­i durchmesse­n unermessli­che Gefühlstie­fen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria