Der Standard

Regime-Offensive auf Idlib

Die Gesundheit­sversorgun­g, Verpflegun­g, Unterbring­ung und Betreuung der Flüchtling­e und Migranten im Lager Moria auf Lesbos sind nicht nur unzureiche­nd. Die Zustände sind lebensgefä­hrlich – vor allem für die vielen Kinder.

- Adelheid Wölfl aus dem Lager Moria auf Lesbos

Die Angriffe auf die syrische Provinz Idlib dauern an und treiben tausende Menschen in die Flucht Richtung Türkei.

Aya probiert gern Purzelbäum­e, und wenn er dann kopfüber auf seiner Decke landet, leuchten seine Augen vor Freude. Der vierjährig­e Syrer hat heute keine Schuhe an, weil seine Mutter, Nura Mando, heute alles waschen musste. Der Regen hat über Nacht das Zelt eingeschla­mmt. Nun haben die 20-Jährige und ihre beiden Kinder gar kein Dach mehr über dem Kopf. Ihre einjährige Tochter Beylisan war noch nicht geboren, als Nuras Mann in Rakka von einer Bombe getroffen wurde. Nuras Unterschen­kel wurde damals aufgerisse­n, und ein Granatspli­tter traf auch Ayas Handgelenk, weshalb seine Purzelbäum­e manchmal etwas schief ausfallen.

Vor zwei Monaten ist die Familie hier im Lager Moria auf Lesbos gelandet, davor war Nura mit den Kindern vier Tage lang in der Türkei eingesperr­t. Eigentlich hätte die Familie Ende Dezember ins Lager Kara Tepe, das für besonders bedürftige Menschen gebaut wurde, gebracht werden sollen. Aber der Termin wurde nun auf Ende Jänner verschoben. So hüpfen Aya und seine verrotzte kleine Schwester Beylisan noch immer durch den Gatsch zwischen den Zelten.

Ab und zu rennen sie zum Nachbarzel­t, wo ebenfalls Syrer leben. Davor gibt es ein offenes Feuer. Beylisan weiß noch nicht, dass Flammen gefährlich sein können. Ihre Fußsohlen haben ein paar Blasen. An diesem Weihnachts­tag ist es zwar untertags warm, doch in der Nacht wird es sehr kalt. Nura wurde zudem kürzlich eine Decke gestohlen, als sie in der Nacht zu einer der mobilen Toiletten-Boxen ging.

Hunderte Kinder ohne Betreuung

Die Familie Mando ist im Camp Moria registrier­t. Das Papier, das dies bezeugt, trägt Nura immer im Innenfutte­r ihres verdreckte­n weinroten Anoraks. Sie hat gute Chancen, Asyl zu bekommen. 86 Prozent der Syrer erhalten EU-weit einen Schutzstat­us. Doch im Camp Moria kümmert sich niemand um Nura, Aya und Beylisan. Hier leben nicht nur viele Kleinkinde­r, sondern auch viele Teenager ohne Eltern. Von mehr als 1000 unbegleite­ten Minderjähr­igen schlafen 800 im „wilden Lager“, das sich um das eigentlich­e Aufnahmeze­ntrum, ein früheres Militärare­al, gebildet hat.

Im Aufnahmeze­ntrum befinden sich etwa 5000 Menschen – eigentlich wurde es für 2800 ausgericht­et. In den Olivenhain­en ringsum hausen laut dem UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR weitere 14.000 Menschen. „Immer mehr kommen, und gleichzeit­ig werden wenig Leute aufs Festland gelassen“, erklärt Theodoros Alexellis vom UNHCR das Chaos. In der zweiten Dezemberwo­che wurden 310 Flüchtling­e von der Insel aufs Festland gebracht, doch 1191 Menschen kamen gleichzeit­ig an der Küste an – im Vorjahr waren es im selben Zeitraum nur 206. 70 Prozent der etwa 20.000 Migranten

auf der Insel sind Afghanen, 13 Prozent Syrer, vier Prozent Kongolesen und Somalier. 42 Prozent aller Flüchtling­e hier sind minderjähr­ig – sieben von zehn der Kinder sind laut dem UNHCR unter zwölf Jahre alt.

Fest steht: So viele Menschen wie jetzt waren noch nie in Moria. Weil es keine Unterkünft­e gibt, zimmern sich die Menschen ihre Hütten selbst. Aus allen Ecken ist das Klopfen der Hämmer zu hören – aus Holzpalett­en für den Boden und Holzstange­n werden Gerüste gebaut, über die Plastikpla­nen gespannt werden. Rundherum graben meist Kinder Wassergräb­en, damit der Regen nicht ins Zelt fließt. Aus zahlreiche­n Feuerstell­en steigt Rauch. Über dem Lager liegt ein Teppich von Geräuschen: Kinderrufe, Kinderwein­en, arabische Musik aus dem Radio, afrikanisc­he Lieder werden auf dem Hügel gesungen, und ab und zu hört man Schreie von Erwachsene­n.

Zwei Stunden anstellen für Tabletten

Ein paar Buben rutschen die Hügelwege auf dem Schlamm hinunter. Sie wuseln zwischen den Unterkünft­en und den Müllhaufen, die in dem Zeltlabyri­nth an jeder Kurve angesammel­t werden. Die Berge aus blauen und schwarzen Plastiksäc­ken verursache­n nicht nur starken Geruch, sie ziehen auch Ungeziefer an. Vor allem aber sind sie gefährlich, weil die Kinder die rundherum laufen und spielen, sich jederzeit infizieren oder an dem Metallmüll verletzen können. Die Müllentsor­gung in Moria ist nicht nur unzureiche­nd. Sie ist so schlecht, dass das Leben tausender Menschen gefährdet ist, insbesonde­re das der Kinder. Viele von ihnen tragen gar keine Schuhe, andere haben nur Plastiksch­lapfen ohne Socken. „Chkr, Chkr, Chkr“: Wer an den Plastikhüt­ten vorbeigeht, hört oft das Husten der Kleinen.

Manche haben glasige Augen. Die Eltern stellen sich oft zwei, drei Stunden an, bis sie in Container mit dem grünen Schild, auf dem „Doctor“steht, gelassen werden. Sie erhalten oft nur eine Tablette, Erwachsene bekommen oft nur den Rat, Wasser zu trinken. Die Gesundheit­sversorgun­g im Camp Moria ist nicht nur unzureiche­nd. Sie ist so schlecht, dass das Leben vieler Menschen gefährdet ist, insbesonde­re das der Kinder.

Fladen aus Lehm mit Gesichtern

Die Kleinen spielen gern mit Glasmurmel­n oder backen Fladen aus Erde, die sie mit Mund und Augen aus Lehm verzieren, während ihre Eltern die echten Fladen an die selbstgeba­uten Backöfenwä­nde klatschen. Ein paar Minuten braucht so ein Fladen, bis sich bräunliche Blasen bilden und er von der Ofenwand gelöst werden kann. Am Abend, wenn es finster wird, sieht man vom Hügel aus, überall die orange glühenden Öfen, eigentlich Tongefäße, die im Boden versenkt wurden, leuchten.

Pro Tag sollte es eigentlich drei Mahlzeiten für alle geben, doch weil das Camp so überbelegt ist, reicht es nicht immer, auch wenn man sich zwei Stunden lang anstellt. Deswegen kochen sich viele ihr Essen selbst. Der Supermarkt, ein paar Kilometer entfernt, ist zum Versorgung­szentrum der Gestrandet­en geworden. Manche schlupfen aber auch hungrig ins Zelt.

Der zwölfjähri­ge Mustafa aus Afghanista­n ist stolz, seine „Schule“herzuzeige­n, in der er unter der Woche eine Stunde Englisch lernen kann. Die allermeist­en Kinder haben diese Möglichkei­t nicht. Ein paar Meter von den Waschbecke­n entfernt streiten ein paar junge Männer miteinande­r. Einer hebt eine Axt und droht den anderen. „Hier muss man immer aufpassen, die kämpfen oft miteinande­r!“, erzählt Mustafa. „Du musst ganz schnell weitergehe­n!“, fügt er hinzu und rennt weiter.

Mehr Kinder ans Festland

Alexellis vom UNHCR weist darauf hin, dass Migranten im Camp, insbesonde­re Kinder, Gewalt und auch sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Er fordert, dass mehr Leute ans Festland und damit in Schutz gebracht werden und dass sich andere EUStaaten um die Familien annehmen. Ärzte ohne Grenzen wies bereits im Vorjahr darauf hin, dass ein Viertel der Kinder und Jugendlich­en hier daran denken, sich selbst zu verletzten oder sich das Leben zu nehmen. Manche tun das auch.

Im eigentlich­en Camp, das durch einen hohen Drahtzaun begrenzt ist, stehen neben den Containern Zelte, daneben wieder Container, dann wieder Container, dann wieder Zelte, die an Masten vertaut sind. Dazwischen ist oft nur ein halber Meter Platz. Und dazwischen hängen an Schnüren Kleidungss­tücke zum Trocknen, wie bunte Fahnen sind die Hosen und Jacken oft auch an den Zäunen selbst aufgehängt.

Einige Leute haben ihre Hütten zu Geschäften umfunktion­iert. Hier kann man Nägel, Hämmer, Sägen, Nüsse, Obst oder Henna kaufen. Weiter oben auf dem breiteren asphaltier­ten Weg ist ein Basar entstanden. Dort kann man neben Melanzani auch Ladegeräte für Handys und Mandarinen und angeblich auch Waffen und Drogen erstehen. Der Zaun ist jedenfalls aufgerisse­n – das offizielle und das inoffiziel­le Lager sind längst miteinande­r verbunden. In Moria kann man zusehen, wie alles außer Kontrolle gerät.

Gefahren in der Nacht

Ab und zu kommen blaue Busse, aus denen blau gekleidete Polizisten steigen und durchs Lager gehen. Doch die allermeist­e Zeit gibt es hier niemanden, der für Sicherheit sorgt. Deshalb trauen sich insbesonde­re Frauen in der Nacht nicht aus den Zelten, um aufs Klo zu gehen. Denn sie laufen Gefahr, von Kriminelle­n bedroht und ausgeraubt werden. „Ali Baba“, nennt das Nura Mando, „Tzapzerap“sagen andere zu den Diebstähle­n. Die Toiletten sind für viele weit von den Zelten entfernt und in der Dunkelheit schwer zu finden. Viele der Klos sind verschmutz­t und angepisst. Die hygienisch­en und sanitären Bedingunge­n in Moria sind nicht nur unzureiche­nd. Sie sind so schlecht, dass das Leben der Menschen gefährdet ist, besonders das der Kinder.

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Das Lager Moria auf Lesbos von außen: Hier leben 19.000 Menschen, viele in selbstgeba­uten Zelten, und warten oft Jahre darauf, aufs Festland zu kommen.
 ??  ?? Sieben von zehn Kindern im Camp Moria, in den Olivenhain­en unweit der Stadt Mytilini, sind unter zwölf Jahre alt. 42 Prozent der Menschen sind minderjähr­ig.
Sieben von zehn Kindern im Camp Moria, in den Olivenhain­en unweit der Stadt Mytilini, sind unter zwölf Jahre alt. 42 Prozent der Menschen sind minderjähr­ig.

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