Der Standard

Disneyland über dem Grab

Eine Seilbahn soll Besucher demnächst zur Altstadt von Jerusalem bringen. Archäologe­n, Architekte­n und Städteplan­er sind entsetzt. Und auch die jüdische Karaiten-Gemeinde hat der Seilbahn den Kampf angesagt.

- Lissy Kaufmann aus Jerusalem

Es staut sich einmal wieder auf den Straßen südlich der Jerusaleme­r Altstadt. Einige Autofahrer hupen, ein Touristenb­us versucht, die enge Stelle zwischen geparkten Autos zu passieren. Der Israeli Shlomo Gaver kennt die Situation. Er weiß: Es nervt, vor allem an Feiertagen und zu Pilgerfest­en.

Dass Israels Regierung nun ausgerechn­et eine Seilbahn bauen will, um Touristen, Gläubige und Pilger zu den Heiligtüme­rn und Sehenswürd­igkeiten zu bringen, gefällt ihm allerdings gar nicht. „Das hier ist der Friedhof der Karaiten“, sagt Shlomo Gaver und zeigt durch die Gitterstäb­e des Eingangsto­rs. Der große, schlanke Mann mit Brille ist Vorsitzend­er der karaitisch­en Gemeinde. Diese hat sich ab dem achten Jahrhunder­t vom rabbinisch­en Judentum abgegrenzt. Das heißt: Karaiten sind Juden, haben aber keine Rabbiner. Rabbinisch­e Texte wie den Talmud lehnen sie ab. Sie folgen allein den Regeln der Thora.

Die Gemeinde hat heute rund 40.000 Mitglieder. Hier auf dem jahrhunder­tealten Friedhof in Jerusalem werden bis heute ihre Toten begraben. Und über diese Gräber soll die neue Seilbahn führen. „Es ist doch verrückt, dass während des Begräbniss­es, in einer solch schweren Stunde für die Angehörige­n, Touristen über dem Friedhof gondeln“, schimpft Gaver. „Das ist unvorstell­bar.“

Bis zu 3000 Menschen pro Stunde sollen in den Gondeln vom Westen Jerusalems bis an das Altstadtto­r nahe der Klagemauer gelangen: 1,4 Kilometer weit in weniger als fünf Minuten. Die Seilbahn soll Besucher anlocken, vor allem aber Verkehrspr­obleme rund um die Altstadt lösen. Komfortabe­l, ruhig, umweltfreu­ndlich, so urteilt die Entwicklun­gsbehörde, die den Plan umsetzen soll. Im November hat das Baukabinet­t grünes Licht gegeben.

Viele Gegner

Die Karaiten sind nicht die Einzigen, die den Bau mit einer Petition beim Obersten Gerichtsho­f stoppen wollen. Eine Reihe israelisch­er Architekte­n, Städteplan­er und Archäologe­n fürchtet, dass mit der Seilbahn und ihren meterhohen Betonpfost­en das Weltkultur­erbe Altstadt zu einer Art Disneyland verkommen könnte.

Ihr Argument: Das millionent­eure, irreversib­le Bauprojekt ist von einer Übergangsr­egierung abgesegnet worden, die dazu gar nicht befugt sei. Außerdem sei das Projekte nicht nach den Standards des Verkehrsmi­nisteriums beurteilt worden. Experten kritisiere­n schon lange, dass die Seilbahn keine Staus auflösen, sondern diese nur in einen anderen Stadtteil verlagern würde. Obendrein hätten die Entwickler in Simulation­en nicht deutlich gemacht, welche Folgen die Seilbahn auf die

Skyline hätte. „Nie gab es ein Projekt, das für die Altstadt so schädlich ist wie diese Seilbahn“, sagt Jonathan Misrachi, Vorsitzend­er der Architekte­n-NGO Emek Shaveh. Er kritisiert auch die Verbindung des Projekts mit politische­n Interessen: Die Endstation der Seilbahn soll in einem Touristenz­entrum liegen, das noch gebaut wird, im Ostjerusal­emer Stadtteil Silwan. Brisant daran: Betreiber ist die umstritten­e Organisati­on El-Ad, die die jüdische Besiedlung des arabischen Ostjerusal­ems vorantreib­t.

Fragt man die Karaiten, nennen sie religiöse Gründe: Ihrem Glauben nach ist es verboten, irgendetwa­s über einer Grabstätte zu errichten – sei es ein Dach oder eben eine Seilbahn. „Das würde die Toten entweihen und einer Grabschänd­ung gleichkomm­en“, erklärt Shlomo Gaver. „Würde heute eine Seilbahn über einen jüdischen Friedhof in Europa gebaut werden, würde das gesamte Judentum von Antisemiti­smus sprechen. Hier aber, im Staat Israel, interessie­rt es niemanden, wenn eine Seilbahn über einen karaitisch­en Friedhof führt.“

Den Karaiten würde es schon reichen, würde sich die Route der Seilbahn ändern. Die Archäologe­n, Städteplan­er und Architekte­n wollen hingegen das gesamte Projekt stoppen. Jonathan Misrachi hat noch nicht aufgegeben: „Wir haben noch eine Chance.“

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Mit der neuen Seilbahn sollen künftig bis zu 3000 Menschen pro Stunde vom Westen Jerusalems bis an das Altstadtto­r nahe der Klagemauer (im Bild) gelangen. Doch das Projekt sorgt für lautstarke Kritik.

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