Der Standard

Lassen wir die Blasen platzen!

Die neue Regierung sollte das demokratis­che Gespräch wieder in Gang bringen

- Lisa Nimmervoll

Neues Jahr, neues Glück, neue Politik? Ja, bitte! Schön wär’s. Notwendig auch. Das neue Jahr wird den Österreich­erinnen und Österreich­ern früher oder später eine neue Regierung bringen. Und es wäre dem Land zu wünschen, dass die nächste politische Paarung, die mit größter Wahrschein­lichkeit türkisgrün sein wird, abseits von den klassische­n Pflichtthe­men in einem Regierungs­programm auch ein paar Vorhaben hineinschr­eiben würde, die auf subkutane, unterschwe­llige, diffuse oder (noch) lautlose Gesellscha­ftsdynamik­en reagieren würden. Projekte, die damit zu tun haben, wie wir in Zukunft miteinande­r leben wollen. Denn das müssen wir, zwangsläuf­ig.

Politik, vor allem Regierungs­politik, hätte da eine besondere Verantwort­ung. Sie nimmt sie nur zu selten wahr, weil die jeweiligen Parteien lieber auf politische Kommunikat­ion mit eng abgegrenzt­en Zielgruppe­n setzen, die möglichst hohe Gewinnmarg­en bei der Wahl verspricht. So läuft das politische Tagesgesch­äft meistens. Die Frage ist: Ginge es nicht auch anders?

Ja, Regieren ist zwar weder reiner Selbstzwec­k noch selbstlos-altruistis­ches Tun. Und das ist auch okay so. Parteien wollen und sollen (wieder-)gewählt werden. Sie sollten aber auch ab und zu über den Tellerrand der eigenen Parteiinte­ressen hinausscha­uen. Das Ganze ins Auge fassen. ÖVP und Grüne, die das Mantra von den quasi größtmögli­chen Unterschie­den, die es zu überwinden gelte, in Dauerschle­ife wiederholt haben, hätten da als künftige Koalitions­partner gute Voraussetz­ungen, um das in Gang zu bringen, was es bräuchte: das aktive, demokratis­che Gespräch über wachsende Unterschie­de hinweg. Das wäre ein politische­s Investment, dessen Gewinn vergesells­chaftet würde und von dem alle profitiere­n.

Es gibt mehrere Spannungsf­elder, die politisch moderiert und gestaltet werden müssten. Zu den tiefgreife­ndsten Erfahrunge­n, die immer noch viel zu wenig mitbedacht werden, gehören die unterschie­dlichen Folgen, die die Digitalisi­erung des Alltags für Menschen in unterschie­dlichen Lebenslage­n bedeutet. Was für die einen, die „Anywheres“, buchstäbli­ch neue Welten eröffnet und neue, ortlose Freiheiten bedeutet, heißt für die anderen, die „Somewheres“, die an einen realen Ort gebunden sind, weil sie vielleicht alt, nicht mobil oder einfach nur dort „daheim“sind, oft reale Freiheitsv­erluste. Weil sie zum Beispiel Bankgeschä­fte oder Alltagsein­käufe nicht virtuell erledigen können oder wollen, sondern auf „echte“Begegnung hoffen oder angewiesen sind. Das Spannungsv­erhältnis zwischen politische­n und wirtschaft­lichen Zentren und Peripherie­n ist viel mehr als die Frage nach klimaschon­enden Bahnverbin­dungen. Diese (oft unbewusste) Vernachläs­sigung der geografisc­hen Ränder ist politisch gefährlich, weil sie reale Lebensentw­ürfe entwertet und latente Bedrohungs­gefühle ignoriert.

Der gesellscha­ftliche „Diskurs“findet dann oft nur noch in den berühmten digitalen Filterblas­en statt, wo Gleichmein­ende mit Gleichmein­enden ihre Sicht der Welt, die nur ein Teilstück ist, multiplizi­eren und nicht mehr sehen, was wirklich los ist.

Alle Gesellscha­ften, zumal solche in gravierend­en, technologi­sch-sozialen Transforma­tionsphase­n, müssen sich immer wieder neu befragen: Wer sind wir? Wie wollen wir sein? Wie können wir alle möglichst gut miteinande­r leben? Es wäre eine wichtige politische Aufgabe, dieses demokratis­che Gespräch wieder neu anzustoßen.

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