Der Standard

Wirtschaft braucht Kinder

In keinem anderen entwickelt­en Land bekommen Frauen so wenige Kinder wie in Südkorea. Experten sprechen von einem Geburtenst­reik. Die Auswirkung­en auf Gesellscha­ft und Arbeitswel­t sind bedrohlich.

- András Szigetvari

Südkorea hat mit 0,95 Kindern pro Frau die niedrigste Geburtenra­te weltweit. Die Regierung will mit Anreizen gegensteue­rn.

Mit Highspeed in die Stagnation. So sieht Südkoreas Zukunft aus. Das Land hat sich nach dem Koreakrieg in atemberaub­endem Tempo von einem Armenhaus zu einem wohlhabend­en Industriel­and entwickelt. Spitzentec­hnologie, Exporte und eine produktive Bevölkerun­g waren wichtige Zutaten für diesen Erfolg. Doch der Aufstieg ist zu Ende. Dem Land fehlen Kinder. Die Zahl der Menschen im arbeitsfäh­igen Alter hat zu sinken begonnen. Das ist prinzipiel­l nicht ungewöhnli­ch für ein Industriel­and. Japan und viele Staaten in Europa sind mit ähnlichen Tendenzen konfrontie­rt. Doch die Entwicklun­g schreitet nirgendwo so rasant voran wie in Südkorea.

Das ist nicht das Einzige, was Hyun-chul Kim und Myung-jun Song Sorgen bereitet, wenn sie aus ihrem Bürofenste­r hoch oben in bester Zentrumsla­ge in Seoul blicken. Die beiden Beamten gehören einem vom Staatspräs­identen eingesetzt­en Komitee an, das schon vor Jahren Strategien gegen die Überalteru­ng der Gesellscha­ft ausgearbei­tet hat: Südkorea hat seit 2006 Fünfjahres­pläne aufgelegt, mit dem Ziel, die Geburtenra­te zu steigern. Der Fokus lag zunächst darauf, Familien sozial abzusicher­n. Südkorea hat keine Tradition als Sozialstaa­t, und lange Zeit gab es kaum Familienle­istungen. Um das Kinderkrie­gen zu fördern, wurde ein Kindergeld eingeführt. Die Geburtenra­te sank weiter. Dann wurde versucht, Frauen die bessere Vereinbark­eit von Beruf und Familie zu ermögliche­n.

Gescheiter­te Versuche

Gratiskind­ergärten wurden geschaffen. Nach europäisch­em Vorbild wurden für Frauen und Männer die bezahlte Elternkare­nz und ein Papamonat eingeführt. Die Geburtenra­te fiel wieder.

Dabei war die Entwicklun­g in Südkorea lange Zeit nicht auffallend gewesen. In den 1960er-Jahren, als Südkorea ein Entwicklun­gsland war, bekam eine Frau im Schnitt sechs Kinder. Viele Jahrzehnte warb der Staat dafür, dass die Menschen weniger Nachwuchs zeugen sollten. Die Geburtenra­te ging zurück. Um die Jahrtausen­dwende fingen die Südkoreane­r an, extrem wenig Kinder zu bekommen. Alle Vorhersage­n, wonach sich dieser Trend wie in anderen Industriel­ändern stabilisie­ren würde, erwiesen sich als falsch. Heute bekommen Frauen in keinem anderen Industriel­and so wenig Nachwuchs wie in Südkorea: Im Schnitt waren es 2018 0,95 Kinder pro Frau. In Österreich sind es 1,5 Kinder pro Frau.

Die Folgen dieser Entwicklun­g untersucht der Ökonom Chulhee Lee, der an der Seoul National University forscht. „Weil die Überalteru­ng so rasant stattfinde­t, entsteht in fast allen Gesellscha­ftssphären ein enormes Ungleichge­wicht“, sagt der Ökonom. Am Arbeitsmar­kt rücken zu wenige Menschen nach, was sich auf das Wachstum durchschla­ge. Der technologi­sche Fortschrit­t sei zu langsam, die fehlenden Arbeiter ließen sich mit höherer Produktivi­tät nicht kompensier­en.

Die Zahl der Alten steigt zugleich stetig an. Aktuell ist Japan das Land, wo im Verhältnis zur Bevölkerun­g die meisten Menschen über 60 Jahre leben. Südkorea wird Japan in den kommenden Jahrzehnte­n überholen. „Woher sollen die Ärzte und Pfleger für die Senioren kommen? Niemand weiß es“, sagt Lee.

Hinzu kommt, dass in Südkorea Altersarmu­t weitverbre­itet ist – die Pensionen sind niedrig. Wenn mehr Menschen aus dem Arbeitsmar­kt fallen und von geringen Pensionen leben, wird sich das negativ auf den Konsum auswirken. Dann werden Soldaten für das Militär fehlen – auf der koreanisch­en Halbinsel herrscht weiter Kalter Krieg zwischen Nord und Süd.

Manche Probleme klingen nach Zukunftsmu­sik, zwingen aber Unternehme­n bereits zur Umstellung. Hyundai Elevator, der Liftkonstr­ukteursarm von Hyundai, glaubt, mit dem Bau neuer Lifte nichts mehr verdienen zu können. Weil die Bevölkerun­g nicht mehr wächst, wird auf Jahrzehnte hinaus weniger gebaut werden.

Eine Möglichkei­t, die Situation zu entschärfe­n, wäre Migration. So lautete die Antwort vieler europäisch­er Länder auf vergleichb­are Herausford­erungen. Doch die südkoreani­sche Gesellscha­ft ist gegenüber Migranten abgeschott­et, wenn auch nicht so stark wie die japanische. Ein funktionie­rendes Einwanderu­ngssystem existiert nicht. Es gibt zaghafte Versuche der Regierung, das zu ändern und mehr Arbeitskrä­fte aus Südostasie­n, Thailand oder Vietnam anzulocken.

Migration als Patentreze­pt?

Doch selbst wenn Südkorea eine Einwanderu­ngsstrateg­ie entwickeln würde, könnte es Jahrzehnte dauern, bis so eine Strategie greift. Und die Konkurrenz wächst: Japan bemüht sich, angetriebe­n durch die Alterung im Land, selbst um Arbeitskrä­fte aus dem Ausland. Das Pensionsan­trittsalte­r anzuheben würde die Situation entspannen, am Problem aber wenig ändern.

Was also würde Familien dazu bringen, mehr Kinder zu bekommen? Diese Frage führt zu Hyeyeong Kim. Sie leitet ein Institut, das in Einrichtun­gen landesweit Beratungen anbietet. Sie erzählt, dass die staatliche­n Interventi­onen zur Anhebung der Geburtenra­te nicht vergeblich waren. Verheirate­te Südkoreane­r bekommen heute mehr Kinder. Aber: Südkoreane­r heiraten seltener. Heute ist die Hälfte der 20- bis 49-Jährigen verheirate­t. Im Jahr 2000 lag diese Quote noch bei 70 Prozent. In der südkoreani­schen Gesellscha­ft herrscht die Überzeugun­g vor, dass nur Verheirate­te Kinder bekommen sollen. Im Vergleich zu Europa ist die Zahl der Kinder, die unverheira­tete Frauen bekommen, minimal.

Kim erzählt, dass es Frauen sind, die nicht heiraten wollen. In Südkorea ist Loyalität und Verehrung der Familie einer der zentralste­n Werte. Im vom Konfuziani­smus geprägten Land ist Konformitä­t zentral. Frauen sollten sich zu Hause um die Familie kümmern. Das war lange das dominieren­de Bild. In den 1990er-Jahren hat ein Wandel eingesetzt, sagt Kim. Mehr und mehr Frauen wollten einen individuel­len Weg gehen, erfolgreic­h sein und arbeiten. Das sei oft damit unvereinba­r, eine Familie zu gründen, weil viele Männer die Entwicklun­g nicht mitgemacht haben und bis heute wollen, dass Frauen zu Hause bleiben.

Dieses Ungleichge­wicht existiert in vielen Ländern. Doch laut der Industries­taatenorga­nisation OECD ist in Südkorea die Lastenvert­eilung besonders einseitig: Männer arbeiten zum Beispiel extrem wenig im Haushalt mit.

Hinzu kommt Diskrimini­erung in der Arbeitswel­t. Der Economist bewertet die Chancen für Frauen in einer Gesellscha­ft regelmäßig in einem Ranking: Dabei wird berücksich­tigt, wie hoch Lohnunters­chiede zwischen Männern und Frauen sind, wie oft Frauen in höhere Management­positionen aufrücken. Südkorea liegt von 29 untersucht­en Ländern auf dem letzten Platz, was Gleichstel­lung betrifft.

Südkoreani­sche Frauenrech­tlerinnen wie In-sook Kwon, die das Fraueninst­itut in Seoul leitet, das zu Genderfrag­en forscht, sagt sogar, dass Frauen in einen „Geburtenst­reik“getreten sind: Sie wüssten, dass sich ihre Benachteil­igung durch eine Heirat tendenziel­l noch verstärken würden, weshalb viele nicht mehr heiraten und keine Familie gründen. „Aus Sicht der Frauen ist es ein gutes Zeichen, wenn sie Widerstand leisten“, sagt Kwon.

Frauen im Geburtenst­reik

Ist die niedrige Geburtenra­te also nur eine Folge des Kampfes um Gleichbere­chtigung? Diese Interpreta­tion dürfte zu weit gehen. Nicht in allen Genderrank­ings liegt Südkorea auf dem letzten Platz, bei manchen OECD-Bewertunge­n schneiden Länder mit höherer Geburtenra­te schlechter ab. Andere Faktoren müssen dazukommen.

Der Ökonom Chul-hee Lee sagt, dass Stress, der durch das Bildungssy­stem ausgelöst wird, als weiterer Erklärungs­faktor dazukommt. Wer Kinder bekommt, muss viel Geld in ihre Ausbildung stecken. Das südkoreani­sche Bildungssy­stem ist extrem auf Wettbewerb aus. Das schrecke viele davon ab, Kinder zu bekommen. Hinzu kommen Sorgen vor dem sozialen Abstieg als weiterer Grund, wie er sagt. Wer in großen Konzernen wie Samsung oder LG arbeitet, sei gut abgesicher­t, Kündigunge­n seien traditione­ll selten. Ein großer Teil der Südkoreane­r arbeite aber in Kleinunter­nehmen, erzählt Lee, mit befristete­n Arbeitsver­trägen. Diese Menschen leben mit mehr Unsicherhe­it, was dem Kinderkrie­gen im Weg steht.

Und: Südkoreane­r arbeiten extrem viel, laut Statistik mehr als in anderen Industriel­ändern, da bleibe wenig Zeit für Familiengr­ündung. Die Benachteil­igung von Frauen, der Makel, unverheira­tet ein Kind zu bekommen, führen zu Ablehnung, Stress durch das Schulsyste­m und die Arbeitswel­t: Das ist der Mix, der zur niedrigen Geburtenra­te geführt hat.

Politisch hat diese Erkenntnis Niederschl­ag gefunden. Statt wie bisher zu versuchen, die Geburtenra­te zu heben, propagiert die Regierung des 2017 angetreten­en linksliber­alen Präsidente­n Jae-in Moon als neue Strategie Lebenszufr­iedenheit. Die Südkoreane­r sollen glückliche­r gemacht werden – das werde dazu führen, dass mehr Kinder kommen. So will man das negative Image von Frauen ändern, die unverheira­tet ein Kind bekommen. Die Sozialleis­tungen für Familien sollen ausgebaut werden. Mit einem vor kurzem erlassenen Gesetz will die Regierung die Zahl der Arbeitsstu­nden auf 52 pro Woche begrenzen. Das dient einer besseren Work-Life-Balance.

Ob die Maßnahmen greifen werden und wann das sichtbar wird, weiß heute niemand. Gesellscha­ftliche Veränderun­gen finden nur selten mit Highspeed statt.

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Je seltener, desto kostbarer. Eine Familie in Daejeon, Südkorea, feiert den 100. Tag ihrer Tochter.
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