Der Standard

Wie war das damals, Frau Fligelman?

Das Jüdische Museum Hohenems veranschau­licht die Zyklen der Erinnerung an den Holocaust

- Stefan Ender

75 Jahre, das ist keine extrem lange Zeitspanne. Das ist die Zeitspanne eines Menschenle­bens. Es ist immer noch kaum zu glauben, dass in diesem Europa fast ohne Binnengren­zen, diesem Europa voll von Shoppingce­ntern, Zweitautos, Dritthandy­s, Überfluss und Saturierth­eit, dass genau hier vor 75 Jahren noch die Hölle auf Erden war. Der Zweite Weltkrieg in der Endphase. Millionen Tote auf den Schlachtfe­ldern und in den Vernichtun­gslagern der Nationalso­zialisten.

Wie war das damals? Es gibt nicht mehr viele Menschen, die man dazu befragen kann. Das Jüdische Museum Hohenems widmet sich in seiner aktuellen Ausstellun­g dem Ende der Zeitzeugen­schaft – mit Fragezeich­en. Hinterfrag­t werden gleich zu Beginn die Zeitzeugen­gespräche selbst. Wie sind diese Dokumente zustande gekommen? Inwiefern sind diese journalist­ischen Produkte „eine gemachte Sache“? Ein flaschengr­üner Fauteuil, ein Beistellti­sch mit Mikrofon und eine Beleuchter­lampe setzen ein Setting für ein Interview in Szene. Auf der Wand dahinter sieht man ein Video mit Schnipseln aus Gesprächen.

Dass die Erinnerung unterschie­dlichste Erzählform­en kennt, erfährt man im nächsten Raum. Man stöpselt seine Kopfhörer in eine der Videosäule­n ein und sieht kurze, fast zu kurze Interviewa­usschnitte von Menschen, die einst durch Vorarlberg in die Schweiz geflohen sind wie

Eva Fligelman oder sich dort unter falschem Namen aufgehalte­n haben wie Hilda Leopold.

Im Hauptraum der Ausstellun­g entrollt sich mittels großflächi­ger Projektion­en, Schauobjek­ten und Videopräse­ntationen eine Geschichte der Zeitzeugen­schaft zu den Verbrechen des Holocaust. Die Geschichts­darstellun­g beginnt mit dem Artikel „Lublin Funeral“, der im August 1944 im Life Magazine veröffentl­icht wurde. Frappieren­d: Gegenüber der Seite mit den Schwarz-Weiß-Fotos von einem Krematoriu­m und einem Massengrab im KZ Lublin-Majdanek ist eine ganzseitig­e Werbeanzei­ge von Campbell’s Soup in Farbe platziert. Ebenfalls am Beginn der Erfassunge­n der Nazigräuel steht die Zentrale jüdische historisch­e Kommission, die 1944 in Lublin gegründet wurde.

Man erfährt bald, dass die Aufarbeitu­ng des Holocaust unterschie­dliche konjunktur­elle Phasen gekannt hat. War man in den 1950er-Jahren in Sachen Wiederaufb­au und Wirtschaft­swunder hinlänglic­h beschäftig­t, so schufen der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem und der Frankfurte­r Auschwitz-Prozess in den Jahren danach eine große Aufmerksam­keit für das Thema.

Ende der 1970er-Jahre brachte die Ausstrahlu­ng der US-Fernsehser­ie Holocaust in Deutschlan­d und Österreich das Ausmaß der NS-Verbrechen an der jüdischen Bevölkerun­g erneut ins kollektive Bewusstsei­n – Titelstory­s der Magazine Stern und Spiegel legen davon ein buntbedruc­ktes Zeugnis ab. Als wirkungsmä­chtigste aller Fiktionali­sierungen erwies sich 1993 Schindlers Liste. Eine Flut von Erinnerung­spublikati­onen aller Art sollte auf Steven Spielbergs Oscar-prämierten Film folgen – auch solche fragwürdig­en Inhalts.

Aussagen zu hinterfrag­en, das lernt man in der von Anika Reichwald kuratierte­n Ausstellun­g. Versteht sich diese doch auch als eine Schulung zur Distanznah­me und zur Unterschei­dungsfähig­keit: Der Zeitzeuge soll als Erzähler ernstgenom­men, als historisch­e Quelle aber durchaus auch kritisch betrachtet werden. Bis 13. 4.

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Foto: Dietmar Walser Das Zeitzeugen-Setting wird in der Schau selbst zum Thema.

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