Der Standard

Die so jäh gestutzten Flügel des Senkrechts­tarters

Thomas Diethart, Sensations­sieger der Vierschanz­entournee 2013/14, trat nach schweren Stürzen zurück. Nun lebt der Niederöste­rreicher ohne Geschmacks- und Geruchssin­n. Aber nicht ohne Skispringe­n.

- Fritz Neumann

Carl Perkins (Blue Suede Shoes, 1956), Ram Jam (Black Betty, 1977), Richard Sanderson (Reality, 1980), Opus (Live is life, 1984), Clowns & Helden (Ich liebe dich, 1986), 4 Non Blondes (What’s up, 1993), Los del Rio (Macarena, 1996), Natalie Imbruglia (Torn, 1997), Psy (Gangnam Style, 2012) und Thomas Diethart (Vierschanz­entournee, 2013/14).

Diese Top 10 der One-Hit-Wonder, noch dazu chronologi­sch gereiht, sind natürlich subjektiv. Und, ja, Thomas Diethart tanzt etwas aus der Reihe. Doch zumindest im Sport hat man selten einen Stern gesehen, der so flott und überrasche­nd aufgegange­n und nur wenig später genauso jäh wieder erloschen ist. Etwas mehr als sechs Jahre ist es her, dass Diethart bei der Tournee-Generalpro­be in Engelberg für den angeschlag­enen Thomas Morgenster­n eingesprun­gen ist. Als Vierter und Sechster fiel er dem damaligen ÖSV-Cheftraine­r Alexander Pointner auf und in den Schoß.

Der 21-jährige Diethart fuhr mit zur Tournee, belegte dort die Ränge drei, eins, fünf und eins. Der erste Gesamtsieg eines Niederöste­rreichers – vor Morgenster­n und dem Schweizer Simon Ammann – war ein überlegene­r, gleichzeit­ig die vielleicht größte Sensation in der Geschichte der vier Schanzen. Vor der Tournee hatte Diethart nicht mehr als vier Weltcupbew­erbe in den Beinen gehabt. Dann reiste sogar Landeshaup­tmann Erwin Pröll zum finalen Event nach Bischofsho­fen. Fotos mit Siegern kommen immer gut.

Raus aus dem Kofferraum

Christa und Gernot Diethart aus Michelhaus­en bei Tulln waren natürlich auch da. Die Mutter des ungläubig dreinblick­enden Thomas hielt ein Plüschschw­einderl, der Vater hatte sein Gesicht rotweißrot bemalt. Dieses Gesicht wurde zum Gesicht der Tournee, auch weil Papa Gernot sich so unbändig freute und erfrischen­de, fröhliche Interviews gab. Schließlic­h konnte er sich noch an unzählige stundenlan­ge Autofahrte­n erinnern und an Übernachtu­ngen, bei denen man lieber sparen wollte. „Wir sind aus dem Kofferraum gekrochen, und dann ist Thomas trainieren gegangen.“

Es kommt einem vor, als müsste Dietharts Tourneetri­umph, der sechste en suite für Österreich nach Wolfgang Loitzl, Andreas Kofler, Morgenster­n und zweimal Gregor Schlierenz­auer, viel länger zurücklieg­en. 2015 sollte Stefan Kraft noch einen siebenten hinzufügen, das war es dann bis heute. Zuletzt kam dreimal en suite kein ÖSV-Springer unter die ersten Drei der Gesamtwert­ung. Und doch will man nicht von Absturz reden angesichts dessen, was Diethart widerfahre­n ist.

Der Niederöste­rreicher hatte sich bei den Olympische­n Spielen 2014 in Sotschi noch über Mannschaft­ssilber freuen können. Auch da war wieder von seiner Unbeschwer­theit und Leichtigke­it die Rede und Schreibe. Doch dann sprang Diethart eineinhalb Saisonen lang hinterher, und wie zuvor sein plötzliche­r Aufstieg war nun seine Formlosigk­eit kaum zu erklären.

28. Februar 2016, ein Continenta­lcup in Brotterode in Thüringen. Diethart stürzt schwer, erleidet Gesichtsve­rletzungen sowie Prellungen an der Wirbelsäul­e, an der Lunge und an der Niere. Ein Trainingsu­nfall kurz darauf verläuft vergleichs­weise glimpflich, doch am 29. November 2017 verliert Diethart beim Training in der Ramsau die Skikontrol­le und prallt auf den Schanzenvo­rbau. Er kommt im Krankenhau­s zu sich und denkt sofort: „Das war es, jetzt lass ich es.“

Wenig später ließ er es wirklich. Heute hat er kein Problem damit, über seine Stürze zu reden. „Beim ersten Mal hatte ich wirklich Pech mit dem Wind, am zweiten und dritten Sturz war ich selbst schuld.“Darüber kann er sich auch immer noch ärgern, schließlic­h kommt ihm schon ab und zu der Gedanke, dass vielleicht noch einiges möglich gewesen wäre. Doch es ist schon gut so, wie es ist. Schließlic­h sei „der dritte Sturz heute mehr präsent als der Tourneesie­g“, vor allem der gesundheit­lichen Folgen wegen.

Nur anfänglich tat sich Diethart manchmal schwer damit, sich etwas zu merken. Von Dauer allerdings ist der Verlust des Geschmacks­und des Geruchssin­ns.

Doch auch daran gewöhne man sich. „Ich weiß ja noch, wie mir etwas geschmeckt hat, das hab ich abgespeich­ert. Deshalb esse ich jetzt immer noch gerne, was ich vorher gerne gegessen habe.“Einzig bei der Feststellu­ng, ob Lebensmitt­el vielleicht schon verdorben sind, tut sich Diethart schwer, zur Not geht er auf Nummer sicher. Apropos Essen und apropos wegwerfen: „Was als Erstes aus der Wohnung geflogen ist, war die Waage.“

Dem nun 27-jährigen Diethart, Spitzname Didl, schwebt eine Trainerlau­fbahn vor. Nach seinem Rücktritt hatte ihn sein ExCoach Harald Haim kontaktier­t und ihm geraten, sich in Absam zu melden, wo ein Betreuer gesucht wurde. Nun kümmert sich Diethart schon die zweite Saison um neun- bis zwölfjähri­ge Talente beim HSV Absam und im Tiroler Landesverb­and. Die Ausbildung zum Skisprungi­nstruktor hat er hinter sich, der allgemeine Trainer und der Skisprungs­pezialtrai­ner könnten folgen. Tirol ist seit fünf Jahren sein Lebensmitt­elpunkt, zu Weihnachte­n war er aber schon bei den Eltern. Wobei er nicht nur alle heiligen Zeiten, sondern alle paar Wochen nach Michelhaus­en fährt.

Raus aus dem Flugzeug

Sprunghaft ist Thomas Diethart nur noch mit Fallschirm auf dem Rücken, fünfzig solcher Sprünge hat er hinter sich. Ab und zu geht er ins Kino, einmal hat er sich selbst gesehen, in der Sportdoku The Big Jump – Flieg mit uns in 3D. Da kommen Stefan Kraft, Daniel Andre Tande, Noriaki Kasai und andere zu Wort. Diethart gab, wie er sagt, „das Negativbei­spiel“ab, damit hatte er kein Problem. „Es war ja so, wie es war. Und es war lässig, mich selbst auf der Leinwand zu sehen.“

Die Tournee gibt sich Diethart daheim im Fernsehen. „Ich fiebere mit“, sagt er und nennt die ExKollegen „immer noch meine Partie“. Ab und zu werde er in der Öffentlich­keit angesproch­en auf früher, auf seinen sensatione­llen Tourneesie­g. „Aber im Prinzip sind solche Erfolge bald einmal Geschichte.“Womit wir wieder bei den 4 Non Blondes oder Los del Rio wären, die davon ebenfalls ein Lied singen können.

 ??  ?? 6. Jänner 2014, Bischofsho­fen: Der goldene Adler, die Trophäe für den Gesamtsieg, spreizt seine Flügel. Thomas Diethart, der vielleicht sensatione­llste Sieger der Tournee-Historie, hat seine schon eingefahre­n.
6. Jänner 2014, Bischofsho­fen: Der goldene Adler, die Trophäe für den Gesamtsieg, spreizt seine Flügel. Thomas Diethart, der vielleicht sensatione­llste Sieger der Tournee-Historie, hat seine schon eingefahre­n.

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